Kölle Allah: die Kontroverse um den Muezzin-Ruf in Köln

04.11.2021 - Themenbereiche: Nordrhein-Westfalen, Politik, Religion
Dieses Bild zeigt die DITIB-Zentralmoschee in Köln

(Bildquelle: https://www.flickr.com/photos/160866001@N07/48764387101 | Urheber: Marco Verch | Flickr | CC-BY-2.0: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)

Kurzfassung

„Jede Jeck is anders“: Köln gilt als Stadt der Toleranz und Vielfalt. Mit einem neuen Pilotprojekt macht die parteilose Oberbürgermeisterin Henriette Reker dem Image der Domstadt alle Ehre: Seit dem 8. Oktober dürfen Kölner Moscheen Gläubige über Lautsprecher zum Freitagsgebet rufen. Das Projekt ist auf zwei Jahre befristet. Doch was Reker als „Zeichen des Respekts“ versteht, demonstriert für andere genau das Gegenteil: Der Muezzin-Ruf hat in Köln eine heftige Kontroverse entfacht.

Zwar darf der Gebetsruf nur freitags zwischen 12 und 15 Uhr und für die Dauer von maximal fünf Minuten erfolgen. Dennoch kritisieren Islamwissenschaftler:innen wie Necla Kelek, es handele sich dabei um ein Glaubensbekenntnis, das in seiner öffentlichen Form vor allem dazu diene, die intolerante Weltsicht des politischen Islam zu verbreiten – etwa, indem es sich nur an Männer richte. „Ich kann es nicht verstehen, dass die Oberbürgermeisterin als Frau diese patriarchalische Welt faktisch unterstützt“, prangert Kelek im BLICK-Interview an. Auch befürchten Kritiker:innen, dass der öffentliche Muezzin-Ruf durch rechte Kreise instrumentalisiert werden könnte – zulasten eines friedvollen Miteinanders der Religionen.

Köln steht mit dem Muezzin-Ruf nicht alleine da

Die Stadt Köln hingegen verweist bei dem zunächst auf zwei Jahre befristeten Projekt auf die im Grundgesetz verankerte Freiheit der Religionsausübung. Damit steht sie nicht alleine da – vor allem nicht in Nordrhein-Westfalen: Schon seit den 90er-Jahren ist der öffentliche Muezzin-Ruf in Städten wie Düren, Dortmund, Hamm und Siegen unter gewissen Auflagen erlaubt. Doch die Kölner Gemeinden zögern noch: Nach Medienberichten haben zwar bereits einige der 35 Moscheen Interesse geäußert, ein Antrag zur Teilnahme am Projekt wurde aber noch nicht gestellt.

Derweil ist der Streit in vollem Gange: Spielt das Kölner Pilotprojekt vor allem dem politischen Islam in die Karten? Oder ist es vielmehr ein Ausdruck von Gleichberechtigung, Vielfalt und Integration?

Acht Perspektiven

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„Das Recht auf Religionsfreiheit steht auch Muslimen zu“

Tagesspiegel, 11.10.2021 - Malte Lehming

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Die Perspektive in 30 Sekunden

Der Leitende Redakteur Malte Lehming findet, es müsse gleiches Recht für alle gelten. Denn auch Unterschiede zwischen einem Klangsignal, wie dem Glockengeläut, und einem Glaubensbekenntnis, dem der islamische Gebetsruf gleichkomme, begründe keine Ungleichbehandlung. „Das Recht auf Religionsfreiheit steht auch Muslimen zu“, bekräftigt er im Berliner TAGESSPIEGEL.

Lehming argumentiert, dass das Grundgesetz Gläubigen aller Konfessionen die gleichen Rechte einräume, denn dort heiße es: „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ Lehming findet, dass diese Freiheit den Muezzin-Ruf sogar noch eindeutiger betreffe als das Glockengeläut, mit dem oft auch weltliche Funktionen wie die Zeitansage verbunden seien. Auch die „negative Religionsfreiheit“, die per Grundgesetz verbietet, dass niemand zu religiösen Riten gezwungen werden darf, könne dem öffentlichen Muezzin-Ruf nichts anhaben. Denn daraus folge „weder ein allgemeiner Konfrontationsschutz vor religiöser Symbolik noch ein absolutes Recht auf Verschonung von Religiosität im öffentlichen Raum“, meint Lehming.  

Zwar habe eine Umfrage des Sozialforschungsinstituts INSA im letzten Jahr ergeben, dass die Mehrheit der Deutschen (61 Prozent) gegen eine generelleErlaubnis des islamischen Gebetsrufes sei. „Doch wenn’s um die Freiheit geht – in diesem Fall die der ungehinderten Religionsausübung – müssen Mehrheiten zwar berücksichtigt werden. Sie sollten aber nicht das letzte Wort haben“, plädiert Lehming.

Anmerkungen der Redaktion

Malte Lehming ist Journalist und Redakteur beim TAGESSPIEGEL, wo er hauptsächlich für außenpolitische Themen zuständig ist. Von 2000 bis 2005 hat er das Washington-Büro der Zeitung geleitet. Danach hat er bis 2016 die Meinungsseite des TAGESSPIEGEL geleitet. Als Gastautor schreibt er unter anderem auch für DIE ZEIT, THE EUROPEAN und CICERO. Er hat Philosophie, Deutsche Literatur und Europäische Geschichte in Hamburg studiert.

DER TAGESSPIEGEL ist eine 1945 gegründete Tageszeitung aus Berlin. Er hat mit 107.000 Exemplaren (3/2021) die höchste Auflage unter den Berliner Abonnementzeitungen und wird im Unterschied zur BERLINER ZEITUNG traditionell vor allem in den westlichen Bezirken der Stadt gelesen, da die Mauer die Verbreitung der Zeitung auf Westberlin beschränkte. Seit 2014 erhält der TAGESSPIEGEL besondere Aufmerksamkeit durch den Checkpoint Newsletter, der täglich aus Berlins Politik, Wirtschaft und Gesellschaft berichtet. EUROTOPICS beschreibt die Blattlinie der Zeitung als liberal. Der TAGESSPIEGEL wurde lange Zeit den regionalen Zeitungen zugerechnet, verfolgt seit einigen Jahren jedoch verstärkt eine überregionale Ausrichtung. Die Printauflage bleibt jedoch stark regional dominiert.

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„Lasst sie rufen“

Tageszeitung (taz), 21.10.2021 - Amed Sherwan

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Die Perspektive in 30 Sekunden

Amed Sherwan, Islamkritiker und LGBTQ-Aktivist, hält die Empörung über den gestatteten Muezzin-Ruf für überzogen. Immerhin erlaube die Stadt Köln den Ruf nur einmal wöchentlich für fünf Minuten. „Wer hierin eine drohende Islamisierung sieht, misst mit zweierlei Maß“, mahnt er in seinem Gastkommentar für die TAGESZEITUNG (TAZ).

Zwar wecke der Ruf des Muezzins auch in ihm unangenehme Erinnerungen. Dennoch gehöre er zur Tradition des Islam, dem auch in Deutschland ein Platz einzuräumen sei – allen Widerständen zum Trotz. Auch die Kirche nehme keine Rücksicht auf Nichtgläubige: „41 Prozent der Gesamtbevölkerung in Deutschland gehört keiner Religion an und muss das ständige Glockenläuten der Kirchen trotzdem ertragen“, gibt Sherwan zu bedenken. Er hält den Muezzin-Ruf daher für einen wichtigen Beitrag zur Vielfalt: „Ich ertrage, dass Religionen sichtbar gelebt werden, weil ich meine Weltanschauung auch offen zur Schau stellen darf.“

Zwar sei jede Religion mit Wahrheitsanspruch potenziell gefährlich. Doch das beste Mittel gegen diese Gefahr sei gelebte Diversität. Dazu gehöre es auch, Traditionen mit denselben Maßstäben zu beurteilen: „Daher lasst die Muezzins rufen oder verbietet Kirchenglocken gleich mit“, fordert Sherwan.  

Anmerkungen der Redaktion

Ahmed Sherwan ist ein aus dem Irak stammender Blogger und Islamkritiker sowie Aktivist für LGBTQ-Rechte. 2020 hat er seine Autobiografie veröffentlicht mit dem Titel „Kafir: Allah sei Dank bin ich Atheist“. Sherwan hat sich bereits mit 15 Jahren auf Facebook kritisch über den Islam geäußert. Da er zu dieser Zeit noch im Irak gelebt hatte, wurde er inhaftiert und mit Elektroschocks sowie Peitschen gefoltert. Nachdem sein Onkel eine Kaution für ihn hinterlegt hatte, floh Sherwan nach Deutschland. Seit 2014 lebt er in Flensburg. Seitdem engagiert sich Sherwan in Deutschland: beispielsweise, indem er 2018 in einem T-Shirt mit der Aufschrift „Allah is gay“ beim Christopher Street Day in Berlin mitlief.

Die TAGESZEITUNG (TAZ) ist eine überregionale deutsche Tageszeitung. Sie wurde 1978 als alternative, selbstverwaltete Zeitung – unter anderem vom Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele – gegründet. Die Zeitung hat sich besonders in ihrer Anfangszeit an Linke, Studierende, Grüne und die Hausbesetzer-Bewegung gerichtet. Erklärtes Ziel der TAZ ist es seither, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Sie gehört heute zu den zehn größten überregionalen Tageszeitungen in Deutschland, mit einer verkauften Auflage von rund 48.900 (3/2021). Das Goethe-Institut verortet die TAZ als „grün-linkes“ Blatt und betont besonders die oft sehr kritische Berichterstattung der Zeitung. EUROTOPICS sieht die TAZ als linkes Medium und stellt die gestaffelte Preisgestaltung und die Entscheidung gegen Online-Bezahlschranken als Besonderheiten der Zeitung heraus. Die TAZ wird genossenschaftlich herausgegeben, jährlich findet eine Generalversammlung statt, an der jedes der zuletzt (2021) rund 20.000 Mitglieder teilnehmen kann.

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„Allah und die Almans“

Enorm Magazin, 22.10.2021 - Morgane Llanque

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Die Perspektive in 30 Sekunden

Wer den Muezzin-Ruf zum Feindbild erklärt, lässt wichtige Teile der deutsch-islamischen Geschichte außer Acht, meint die Redakteurin Morgane Llanque. Kaum dürfe eine Moschee öffentlich zum Gebet aufrufen, fürchte manch eine:r gleich „den Untergang des Abendlandes“. „Dabei bereichern sich unsere Kulturen schon seit 1200 Jahren gegenseitig“, betont die Autorin im Wirtschaftsmagazin ENORM.

Laut Llanque werde die „stark im kollektiven Gedächtnis verankerte Islamophobie“ den positiven Begegnungen der Deutschen mit der islamischen Kultur nicht gerecht. So habe bereits in der Epoche der Kreuzzüge ein reger Kultur- und Wissenschaftsaustausch mit der islamischen Welt begonnen. Laut Llanque trugen Kaiser des Heiligen Römischen Reichs seit dem 12. Jahrhundert etwa einen arabischen Krönungsmantel mit islamischen Schriftzügen. Daneben beschäftigten sie – damals teils weit überlegene – muslimische Gelehrte und Handwerker am Hof.

„Während das Wissen der Antike im mittelalterlichen Europa in Vergessenheit geriet, wurden die Schriften von Euklid, Platon und Co von Gelehrten in Bagdad bis Granada übersetzt, bewahrt und weiterentwickelt“, so Llanque. Diesem Transfer, dessen Geschichte auch im Buch „Aladdin’s Lamp“ von John Freely nachzulesen sei, sind laut der Autorin dutzende deutsche Lehnworte aus dem Arabischen zu verdanken – etwa Algebra, Gitarre oder Zenit.

Später habe auch die Wissenschaft, die Literatur und die Kunst den „Orient“ für sich entdeckt. So sei Goethes „West-östlicher Divan“ eine Hommage an die persische Dichtung und auch Lessing habe sich in seinem Werk „Nathan der Weise“ für die Ebenbürtigkeit der Religionen ausgesprochen. „Wie gut, dass es auch heutzutage zahlreiche Gemeinden gibt, die das genauso sehen“, lobt Llanque und verweist auf Städte wie Dortmund oder Siegen, in denen der Gebetsruf über Lautsprecher schon seit den 90er-Jahren erlaubt sei.
 

Anmerkungen der Redaktion

Morgane Llanque ist leitende Redakteurin beim ENORM MAGAZIN. Sie hat Journalismus an der katholischen Journalistenschule ifp sowie an der Universität der Künste in Berlin studiert. Noch während ihres Studiums hat sie als freie Journalistin für die TAZ geschrieben. Nach ihrem Studium hat sie ein Volontariat bei der DEUTSCHEN WELLE absolviert. Seit 2019 ist sie beim ENORM MAGAZIN angestellt.

Das ENORM MAGAZIN ist ein Wirtschaftsmagazin, das sich vor allem mit sozialem und nachhaltigem Unternehmertum beschäftigt. Es erscheint sechsmal pro Jahr in einer Printausgabe – gedruckt auf 100 Prozent recyceltem Papier. Das ENORM MAGAZIN will nach eigenen Angaben komplexe wirtschaftliche Zusammenhänge verständlich erklären und ihre gesellschaftlichen und ökologischen Auswirkungen aufzuzeigen. ENORM wird vom Social Publish Verlag veröffentlicht, der sich auf Marken rund um einen wirtschaftlichen Wandel spezialisiert. Chefredakteur des ENORM MAGAZIN ist Jan Scheper, der unter anderem mehrere Jahre für die linksliberale TAGESZEITUNG (TAZ) geschrieben hat.

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„Gebetsruf in Köln: Warum Bedenken angebracht sind“

Süddeutsche Zeitung, 21.10.2021 - Tomas Avenarius

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Dem Miteinander der Kulturen und Religionen tut Kölns Bürgermeisterin keinen Gefallen“, kommentiert der Nahost-Korrespondent Tomas Avenarius in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. Im Gegenteil: Der langjährige Auslandskorrespondent ist der Auffassung, dass die Domstadt damit Menschen in die Karten spielt, die jetzt schon etwas gegen eine angebliche Islamisierung der Gesellschaft haben.

 

„Gott ist groß und Mohammed ist sein Prophet“, heiße es in dem islamischen Ruf, der die Gläubigen zum Gebet auffordert – „und sie darin erinnert, dass es nur den einen Gott gibt“, erklärt Avenarius. Der Autor hält es für ein Risiko, dem Gebetsruf eine öffentliche Bühne zu bieten, denn dieser werde von manch einem als Schlachtruf von Islamisten gedeutet. Diese Auslegung spiele wiederum denen in die Hände, die ohnehin schon antimuslimische Vorurteile schüren – darunter „auch die Hassprediger der AfD und der anderen Rechten“, warnt der Autor. Auch sei zu befürchten, dass die „vor angeblicher Islamophobie warnenden Islamisten selbst“ durch die öffentliche Debatte an Aufmerksamkeit gewinnen.

Dazu seien auch die Moscheen zwiegespalten, denn bisher habe noch keine das Angebot der Oberbürgermeisterin angenommen. „Offenbar ist der von einem ebenso unbedarften wie selbstgefälligen Kulturromantizismus geprägte Wunsch, die eigene Toleranz laut hörbar zu machen, stärker als der Wunsch der Betroffenen, diese Toleranz zu erfahren“, spottet Avenarius.

Anmerkungen der Redaktion

Tomas Avenarius, geboren 1961, ist Journalist und Autor. Der studierte Politikwissenschaftler hat die Deutsche Journalistenschule in München absolviert und ist seit 1991 bei der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. Von 1999 bis 2004 war er dort Moskau-Korrespondent, seit 2005 ist er Nahost-Korrespondent der Zeitung. Er schreibt für die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG aus Istanbul. Die Kulturwissenschaftlerin Anna Bergmann warf Avenarius vor, in seinen Artikeln über den Afghanistan-Krieg „koloniale Wahrnehmungsmuster“ zu bedienen. 2002 belegte Avenarius zusammen mit Florian Hassel den zweiten Platz bei der Vergabe des Wächterpreises der deutschen Tagespresse: Der Preis wird für investigative Recherchen über Korruption, Vetternwirtschaft, Missstände und Missbrauch vergeben.

Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG (SZ) ist eine deutsche überregionale Tageszeitung aus München. Sie erscheint seit 1945 als Nachfolger der Münchener Neusten Nachrichten. Seit 1947 wird sie von der „Süddeutschen Verlags GmbH“ produziert und ist besonders durch ihre „Seite Drei-Reportagen“ und die kritische Glosse „Streiflicht“ bekannt. Mit einer Auflage von zuletzt 300.000 (3/2021) ist sie in Deutschland nach der BILD die zweitmeist verkaufte deutsche Tageszeitung, auch wenn ihre Auflage insgesamt abnimmt. Die Blattlinie der Zeitung gilt als linksliberal. Zusammen mit dem WDR und dem NDR hat die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG einen investigativen Rechercheverband, der zahlreiche investigative Recherchen veröffentlicht hat, u.a. zu Steuerschlupflöchern und über die Ibiza-Affäre um den FPÖ-Vorsitzenden Strache. Für die Aufklärung über die Panama Papers erhielten SZ-Journalist:innen 2017 einen Pulitzer-Preis für investigative Recherche.
 

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„Ich bin Muslim und will keine Muezzin-Rufe in Deutschland – weil ich weiß, wohin das führt“

Focus Online, 18.10.2021 - Ahmad Mansour

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Sollen in deutschen Städten Muezzine zum Gebet rufen dürfen? „Nein!“, appelliert der deutsch-israelische Autor Ahmad Mansour. Zwar werde das Kölner Projekt von vielen als Sieg gewertet. Doch er glaubt, dass es den Befürworter:innen vor allem um die Sichtbarkeit ihres Islamverständnisses geht. „Dieses Islamverständnis fordert für sich und seine Anhänger einen Exklusivitätsanspruch und besitzt Anspruchsmentalität“, warnt Mansour in seinem Kommentar für das Nachrichtenmagazin FOCUS ONLINE.

In den Augen des Autors hat das mit Solidarität, Toleranz, Offenheit und Vielfalt wenig zu tun. Vielmehr wertet er den öffentlichen Gebetsruf als Etappensieg eines intoleranten Islamverständnisses – „mit seinen ununterbrochenen Bemühungen sich mit allen Möglichkeiten zu behaupten“. Das spiele vor allem Anhänger:innen des politischen Islam in die Karten: „Ihnen geht es wenig um Gleichberechtigung oder Toleranz der Religionen und um deren Co-Existenz, sondern ausschließlich um mehr Sichtbarkeit, mehr Macht und mehr Unterwanderungsmöglichkeiten“, kritisiert Mansour.

Wenn dieselben Personen „morgens Muezzin-Rufe im Namen der Gleichstellung einfordern und am gleichen Abend vom Islam als die einzige wahre Religion sprechen“, sei das wenig glaubwürdig. Gleichzeitig werde jegliche Kritik mit aggressiven und bedrohlichen Reaktionen beantwortet. Dabei sei es längst an der Zeit, „Offenheit gegenüber Missständen in den eigenen Reihen an den Tag zu legen“ und über die Unterdrückung von Frauen, Homophobie und Antisemitismus in den Dialog zu treten, findet Mansour.

Anmerkungen der Redaktion

Ahmad Mansour stammt aus einer nicht-religiösen muslimischen Familie und wurde in Tira in Israel geboren. Seit mehr als 15 Jahren lebt er in Deutschland. Er hat Psychologie, Philosophie und Soziologie in Tel Aviv studiert und schloss sein Diplomstudium der klinischen Psychologie in Berlin ab. Er veröffentlichte mehrere Bücher und Artikel zum Thema Integration und Extremismus und zählt zu den führenden Islamismus-Experten Deutschlands. Kritiker:innen weisen allerdings darauf hin, dass er sich nicht zuletzt mit seinem Buch „Klartext zur Integration. Gegen falsche Toleranz und Panikmache“ in die Riege islamfeindlicher Autor:innen wie etwa Thilo Sarrazin einreihe. In den führenden deutschen Medien wird er jedoch weiterhin häufig als Gesprächspartner eingeladen. Mansour ist Familienberater zu Deradikalisierung und führt interkulturelle Schulungen für Polizeibeamte an der Polizeiakademie Berlin durch. 2017 gründete er die Mansour-Initiative für Demokratieförderung und Extremismusprävention (MIND).

Der FOCUS ist ein wöchentlich erscheinendes deutsches Nachrichtenmagazin. Er ist 1993 vom Hubert Burda Verlag als Konkurrenz zum SPIEGEL gegründet worden. Das Magazin erschien zuletzt in einer verkauften Auflage von rund 256.000 Exemplaren (3/2021) und gehört damit zusammen mit dem SPIEGEL und dem STERN zu den reichweitenstärksten deutschen Wochenmagazinen. Der FOCUS gilt dabei in seiner Ausrichtung im Vergleich zu den beiden Konkurrenzmagazinen als konservativer. Auch der Online-Auftritt des Magazins gehört zu den reichweitenstärksten in ganz Deutschland: Laut der Arbeitsgemeinschaft Online Forschung (AGOF) hatte FOCUS.DE im Juli 2021 rund 26 Millionen Nutzer:innen zu verzeichnen. Das GOETHE-INSTITUT befindet, das Blatt vertrete eine wirtschaftsliberale Haltung und wende sich „mit vielen grafischen Darstellungen und farbintensiven Bildern insbesondere an Leser:innen mit weniger Zeit“. Wie viele andere Medien in Deutschland hat der FOCUS seit Jahren stark sinkende Verkaufszahlen zu verzeichnen: Anfang 2000 lag die Auflage noch bei knapp 811.000 verkauften Exemplaren.

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„Islamwissenschaftlerin gegen öffentlichen Muezzinruf“

Deutschlandfunk Kultur, 15.10.2021 - Jörg Münchenberg, Susanne Schröter

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Die Perspektive in 30 Sekunden

Die Ethnologieprofessorin Susanne Schröter ist überzeugt, dass der Wunsch nach öffentlichen Muezzin-Rufen vor allem dem politischen Islam entspringt. Indem die Kölner Oberbürgermeisterin dieser Forderung nachkomme, richte sie sich gegen die Mehrheit der dort lebenden Muslim:innen, kritisiert Schröter im Interview mit DEUTSCHLANDFUNK-Moderator Jörg Münchenberg.

Es seien vor allem die islamistischen Organisationen, die sich vehement um eine größere Sichtbarkeit des Islam in Deutschland bemühen. Dazu gehöre auch der Moscheeverband DITIB, der gerade in Köln eine „unrühmliche Rolle“ gespielt habe. Letzteres führt Schröter auf die vermeintliche Nähe der Organisation zu dem türkischen Präsidenten Erdogan zurück, der den Islam in Deutschland „im Sinne von völlig aberwitzigen Übernahmefantasien“ nach vorne bringen wolle. Die Mehrheit der hier lebenden Muslim:innen gehöre diesen Organisationen jedoch überhaupt nicht an. Umso fataler findet Schröter es, der Forderung nach öffentlichen Muezzin-Rufen nachzukommen: „Wir entscheiden uns, wenn wir solchen Modellprojekten Raum geben, (…) gegen die überwiegende Mehrheit der Menschen aus muslimischen Ländern, die bei uns wohnen.“

Für viele sei der Ruf, dass Allah der größte sei, mit traumatisierenden Erinnerungen verbunden. „Genau davor sind viele geflohen“, mahnt Schröter. Es sei an der Zeit, diesen Menschen zuzuhören und sich nicht nur mit Vertreter:innen von Organisationen zu beschäftigen, „die doch eher dem politischen Islam angehören“. Die Mehrheit der Muslim:innen in Deutschland sei liberal gestimmt. Laut Schröter sprechen diese Menschen sich explizit gegen den Muezzin-Ruf aus, weil er eine Aussage habe, „mit der sie sich nicht anfreunden möchten“.

Anmerkungen der Redaktion

Susanne Schröter ist eine deutsche Ethnologin und leitet das Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam. Sie hat Anthropologie, Soziologie, Kultur- und Politikwissenschaften sowie Pädagogik in Mainz studiert. Nachdem sie ebenfalls in Mainz zum Thema männlicher Selbsterhaltungsstrategien angesichts omnipotenter Weiblichkeit in Melanesien (eine pazifische Inselgruppe nordöstlich von Australien) promoviert hat, ist sie zunächst als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Mainz tätig gewesen. Von dort aus ist Schröter nach Frankfurt gewechselt, wo sie sich habilitierte. Nach mehreren Vertretungsprofessuren in Mainz und Frankfurt, sowie einer Gastprofessur an der renommierten Yale University in den Vereinigten Staaten, ist sie 2004 auf den Lehrstuhl für Südostasienkunde I – Insulares Südostasien der Universität Passau berufen worden. 2008 wechselte sie an die Universität Frankfurt, wo sie seitdem die Professur für Ethnologie kolonialer und postkolonialer Ordnungen innehat.

Jörg Münchenberg ist ein deutscher Journalist und Moderator bei dem Hörfunksender DEUTSCHLANDFUNK. Er hat für den Sender unter anderem bereits als Wirtschaftsredakteur und EU-Korrespondent in Brüssel gearbeitet. Münchenberg produziert u.a. ebenfalls Beiträge für den politischen Blog NACHDENKSEITEN. Im Deutschlandfunk ist er als Experte zu den Themen Griechenland- und Euro-Krise aufgetreten.

Der DEUTSCHLANDFUNK ist 1962 als Teil des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gegründet worden. Er ist eines der drei bundesweiten Hörfunkprogramme des DEUTSCHLANDRADIOS und hat einen Wortanteil von 80 Prozent. Das Programm beschäftigt sich besonders tagsüber mit tagesaktuellen Geschehnissen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. In den Abendstunden liegt der programmatische Schwerpunkt auf Kulturthemen wie Musik, Hörspielen, Lesungen und entsprechenden Berichten. Der DEUTSCHLANDFUNK sendet klassisch linear, jedoch betreibt er auch eine umfangreiche Audiothek und diverse Podcasts, wo Inhalte auch nicht-linear konsumiert werden können. Laut der Mediaanalyse „ma Audio 2021“ hat der DEUTSCHLANDFUNK im Jahr 2020 täglich rund 2,2 Millionen Zuhörer:innen erreicht.

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„Ein hinkender Vergleich?“

Domradio, 13.10.2021 - Michelle Olion, Klaus Hammer

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Muezzin-Rufe können nicht einfach mit Glockengeläut gleichgesetzt werden, findet der Wissenschaftliche Leiter des Glockenmuseums Stiftskirche Herrenberg, Klaus Hammer. Welche Unterschiede es aus seiner Sicht zu beachten gilt, erklärt er im Interview mit Moderatorin Michelle Olion für den Hörfunksender DOMRADIO.

Ein wesentlicher Unterschied liege darin, dass der Muezzin-Ruf eine direkte Botschaft sei: In ihm werde das Glaubensbekenntnis begründet. Glockengeläut dagegen verkünde keine Botschaft. Es sei vielmehr ein Symbol – auch für Gebete. „Aber wenn zum Beispiel von einem Rathaus aus das Glockenspiel spielt, dann wird das wahrscheinlich weltliche Melodien spielen“, veranschaulicht Hammer. Damit seien dann nicht unbedingt religiöse Aufforderungen verbunden.

Der Muezzin-Ruf hingegen sei ein konkreter Aufruf: „eine eindeutige Botschaft mit einem Aufforderungscharakter speziell zum islamischen Gebet“. Dabei werde gesagt: „Allah ist groß, ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Allah.“ Zwar könne ein Christ Allah mit Gott übersetzen. „Aber wenn es dann weitergeht mit ‚ich bezeuge, dass Mohammed Gottes gesandter Prophet ist‘, dann sieht es schon ein bisschen anders aus“, wendet Hammer ein.

Wenn es dann schließlich heiße, „kommt her zum Gebet, kommt her zum Heil“, dann werde hier „relativ eindeutig festgelegt, wo das Heil ist und damit auch, wo das Heil nicht ist“. Laut Hammer kann das zu einem Konflikt von denjenigen führen, die diese Botschaft nicht für wahr halten. „Das ist der Punkt.“

Anmerkungen der Redaktion

Klaus Hammer ist der wissenschaftliche Leiter des Glockenmuseums Stiftskirche Herrenberg bei Stuttgart. Das Museum wird vom Verein zur Erhaltung der Stiftskirche Herrenberg e.V. unterhalten. Neben dem Museum werden auch regelmäßig Glockenkonzerte in der Stiftskirche Herrenberg veranstaltet. Insgesamt beherbergt die Stiftskirche über 35 Glocken.

Michelle Olion ist eine Moderatorin beim DOMRADIO. Das DOMRADIO ist Olions Ausbildungsstätte für ihr Volontariat bei der katholischen Journalistenschule ifp. Dort ist sie hauptsächlich für Interviews zuständig. Sie hat außerdem für die Website EIFEL LEBEN & ERLEBEN geschrieben: ein Blog, der Menschen und Gegenden in der Eifel vorstellt.

DOMRADIO ist ein katholischer Radiosender des Erzbistums Köln. Erzbischof des Bistums Köln ist der Kardinal Rainer Maria Woelki, der beispielsweise die AfD-Politikerin Beatrix von Storch kritisierte und 2014 die „Aktion Neue Nachbarn“ gründete, die Geflüchteten helfen sollte, in Deutschland Fuß zu fassen. Seit der Veröffentlichung der Recherchen des KÖLNER STADT-ANZEIGERS im Dezember 2020 steht Woelki in der Kritik, weil er die Veröffentlichung rechtlicher Gutachten verhindert hatte, die Kirchenvertreter aufgrund von Kindesmissbrauch belasteten. Nach einem zweiten Gutachten hat Woelki mehrere Kirchenvertreter von ihrem Dienst entbunden. Das DOMRADIO wird vom Bildungswerk der Erzdiözese Köln e.V. betrieben und liefert hauptsächlich Nachrichten zu katholischen Themen. Aber auch andere religiöse Themen finden im DOMRADIO Beachtung: So gibt es beispielsweise den Podcast „Sabbat Schalom“, in dem junge Jüd:innen ihr Leben und ihren Glauben erklären. Chefredakteur des DOMRADIOS ist Ingo Brüggenjürgen, der katholische Theologie sowie Publizistik studiert und 2000 den Radiosender mit aufgebaut hat. Laut Similarweb hatte die Website des DOMRADIOS, DOMRADIO.DE, im September 2021 rund 650.000 Besuche zu verzeichnen.

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„Was bedeutet der Gebetsruf aus religiöser Sicht?“

Islamiq, 15.10.2021 - Ilhan Bilgü

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Die Perspektive in 30 Sekunden

Dass in Kölner Straßen zukünftig Muezzin-Rufe zu hören sein könnten, stößt bei vielen Menschen auf Ablehnung. Angesichts der entfachten Debatte erklärt der Islamtheologe Ilhan Bilgü im Online-Nachrichtenportal ISLAMIQ, was es aus religiöser Sicht überhaupt mit dem islamischen Ruf zum Gebet auf sich hat. Denn der Muezzin-Ruf sei eines der besonderen Merkmale des Islams und werde nur in arabischer Sprache ausgerufen.

Während es in Mekka, dem Geburtsort des Propheten Muhammad, noch keine spezielle Methode gegeben habe, um zum Gebet zu rufen, sei vor der Prophetenmoschee in Medina, der zweitwichtigsten heiligen Stadt des Islam, zunächst mit den Rufen „as-Salâh, as-Salâh“ (dt. „zum Gebet, zum Gebet“) zum Gebet eingeladen worden. „Als die muslimische Bevölkerung zunahm, entstand die Notwendigkeit, diesen Aufruf auf andere Weise zu übermitteln“, erläutert Bilgü.

Die heute bekannte Form des Gebetsrufs gehe auf den Traum eines Prophetengefährten zurück. Als dieser Muhammad von dem Ruf, den er im Traum vernommen hatte, erzählte, habe der Prophet Bilâl Habaschi darum gebeten, ihn auswendig zu lernen und fortan vor jedem Gebet auszurufen. Der erste Ruf sei über dem Haus eines Gefährten gesprochen worden. Später habe man in der Prophetenmoschee einen speziellen Ort dafür eingerichtet. „Dieser Ort wird als ‚Mi’zana‘ bezeichnet, doch ist das Minarett für diesen Zweck bekannter“, so Bilgü. Seither sei dieses ein fester Bestandteil der Moscheearchitektur.

Bilgü glaubt, dass ein besseres Verständnis dabei helfen kann, Reibungspunkte in der aktuellen Debatte zu verhindern. Andererseits sei es auch wichtig, dass Muslim:innen die Sensibilitäten ihrer Nachbarn berücksichtigen. „Andernfalls kann der öffentliche Gebetsruf in Europa zu einer Herausforderung werden, die am Ende niemandem etwas bringt“, warnt der Autor.

Anmerkungen der Redaktion

Ilhan Bilgü ist ein türkischer Journalist, der seit 1990 in Deutschland lebt. Er hat islamische Theologie in Istanbul studiert und danach in Pakistan am Institute of Policy Studies gearbeitet, einem gemeinnützigen Politikwissenschaftsinstitut. Nach zwei Jahren am Institute of Policy Studies hat Bilgü eine Ausbildung zum Journalisten absolviert und später für den LEXINGTON HERALD TRIBUNE gearbeitet. 1990 ist Bilgü nach Deutschland migriert, wo er seitdem als Journalist tätig ist.

ISLAMIQ ist ein Online-Nachrichtenportal rund um den Islam in Deutschland und Europa. Sein Ziel ist es, die muslimische Gemeinschaft in Deutschland so breit wie möglich abzubilden. Es wird herausgegeben von der Plural Publications GmbH, einem Verlag, der nach eigenen Angaben an die islamische Literatur anknüpfen möchte und sich an muslimische und nicht-muslimische Leser:innen richtet. Geschäftsführer von Plural Publications sind Bekir Altaş, Osman Yusuf und Ali Mete. Letzterer ist zugleich Chefredakteur von ISLAMIQ. Altaş war Mitglied im Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland und ist Generalsekretär des Religionsverbandes IGMG (Islamische Gemeinschaft Millî Görüş e.V.) in Köln. Yusuf Mete ist Leiter der Abteilung für Verbandskommunikation der IGMG. Die IGMG ist mehrere Jahre lang vom Verfassungsschutz beobachtet worden, da der Verein aus der islamistischen Millî Görüş-Bewegung in der Türkei heraus entstanden ist. Die Millî Görüş-Bewegung ist in den 70er-Jahren in der Türkei aufgekommen und forderte damals die Einführung einer antidemokratischen Rechts- und Staatsordnung, die auf dem Islam basiert. Die Bewegung fand auch bei vielen im Ausland lebenden Muslim:innen Anklang. In den letzten Jahren habe sich die Bewegung jedoch – zumindest was die IGMG in Deutschland angeht – deradikalisiert. Laut dem Ethnologen Werner Schiffauer, der die IGMG jahrelang beobachtete, sei die IGMG nun eine pragmatische Interessenvertretung der deutschen Muslim:innen und keine antidemokratische revolutionäre Bewegung mehr. Die meisten Landesämter für Verfassungsschutz haben die Beobachtung der IGMG aufgrund der neueren Geschichte wieder eingestellt, der Bundesverfassungsschutz beobachtet die IGMG aber weiterhin. Plural Publications kritisiert, dass in der deutschen Medienlandschaft zumeist nur über Muslime gesprochen wird und selten mit ihnen, sodass teilweise ein verzerrtes, unvollständiges oder gar falsches Bild entstehen kann. Zusätzlich hat die Seite ein Magazin: „IslamiQ – Das Magazin: Muslime in Deutschland: Perspektiven, Meinungen, Erwartungen“ betrieben, welches anlässlich des fünfjährigen Jubiläums von ISLAMIQ veröffentlicht wurde.