Zeitenwende – aber wohin?

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine markiert eine Zäsur in der europäischen Nachkriegsgeschichte – darin sind sich Politik und Wissenschaft einig. „Zeitenwende“ ist das dominierende Schlagwort der Berichterstattung. Aber was ist damit genau gemeint? Hier finden Sie Beiträge von Forscherinnen und Forschern, die vertiefte Perspektiven auf den Krieg in der Ukraine bieten und den Versuch einer historischen Einordnung unternehmen.

Beiträge der Wissenschaft

  • Laut dem Osteuropa-Historiker Karl Schlögel werden die "Topographien von Verbrechen und Widerstand in Europa" mit dem Krieg in der Ukraine neu gezeichnet. In seinem in der Frankfurter Rundschau veröffentlichten Vortrag bei den Frankfurter Römerberggesprächen sprach er über den "deutschen Russlandkomplex", das Ringen um eine Charakterisierung des Putinismus – und das Bedürfnis, die Welt nach Zeitenwenden und Zäsuren zu ordnen.

    Zur Person: Karl Schlögel war bis zu seiner Emeritierung 2013 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Er ist Verfasser von Büchern wie Entscheidung in Kiew und Das sowjetische Jahrhundert.
  • Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler sieht im Agieren Putins eine Rückkehr zum Imperialismus. In Interviews mit dem Deutschlandfunk und der Frankfurter Rundschau attestiert er Russland „postimperiale Phantomschmerzen“ und benennt Ursachen und Konsequenzen revisionistischer Politik.

    Zur Person: Herfried Münkler war bis 2018 Inhaber des Lehrstuhls für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen wichtigsten Büchern gehören Die Neuen Kriege (2002), Imperien (2005) und Der Große Krieg (2013).
  • Die Politikwissenschaftlerin und Russland-Expertin Margareta Mommsen hält es für möglich, dass wir aktuell die „Selbstzerstörung des Putinismus“ erleben. Im Interview mit der Bundeszentrale für politische Bildung spricht sie über Putins imperialistische Denkweise und die Chancen für eine Anti-Kriegs-Bewegung in Russland.

    Zur Person: Margareta Mommsen war von 1989 bis 2003 Lehrstuhlinhaberin für Politikwissenschaft am Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Im Jahr 2017 ist ihr Buch Das Putin-Syndikat – Russland im Griff der Geheimdienstler erschienen.
  • Laut dem Historiker Andreas Rödder ist der Krieg gegen die Ukraine eine tiefere Zäsur als der 11. September 2001. Im Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland äußert er sich zu historischen Mustern, die seiner Meinung nach eine Warnung für die Gegenwart sein sollten.

    Zur Person: Andreas Rödder ist Professor für Neueste Geschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und lehrt aktuell als Gastprofessor an der Johns Hopkins University in Washington. Er ist Autor des Bestsellers 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart.
  • „Im Kern dieses Krieges geht es um Geschichte“, sagt der ukrainische Historiker Serhii Plokhy. Im Interview mit dem SWR spricht er über das fehlende Verständnis für die besondere Geschichte der Ukraine und erklärt, weshalb der große Widerstand der Ukrainer Putins Rechtfertigung für den Angriff hinfällig werden lässt. Er prognostiziert, dass die Ukraine „langfristig als Staat und Nation“ bestehen bleiben wird.

    Zur Person: Serhii Plokhy (Serhi Plochi) ist Direktor des Harvard Ukrainian Research Institute in den USA. Aufgewachsen in der russischsprachigen Stadt Saporischja im Südosten der Ukraine, gilt er heute als weltweit renommiertester ukrainischer Historiker. Sein 2015 publiziertes Buch The Gates of Europe gehört zu den Standardwerken über die Ukraine. Plokhys politischen Essays zum russisch-ukrainischen Verhältnis sind 2022 unter dem Titel Die Frontlinie in deutscher Sprache erschienen.
  • Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama schreibt in einem Gastbeitrag für die Financial Times, dass demokratische Werte und liberale Gesellschaften nicht erst seit der russischen Invasion der Ukraine bedroht werden. Mit dem Aufstieg autoritärer Regime, dem Erstarken von Populismus und Nationalismus werde der Liberalismus seit längerer Zeit vor große Herausforderungen gestellt – vor Probleme, die es unabhängig vom Ausgang des Kriegs in der Ukraine weiterhin geben werde.

    Zur Person: Francis Fukuyama ist Professor für Politikwissenschaft an der Stanford University. Berühmt wurde er 1989 durch seinen Essay Das Ende der Geschichte?, in dem er im Zuge des Falls des Eisernen Vorhangs die liberale Demokratie als Höhepunkt der gesellschaftlichen Evolution bezeichnet. 2019 von ihm erschienen: Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet.
  • Der Sozialpsychologe Andreas Zick erklärt im Interview mit dem Bayerischen Rundfunk, wie sich der Ukrainekrieg auf unsere Gesellschaft auswirkt, welche Unsicherheiten er schürt – und warum es jetzt auf die Stärke der Demokratie ankommt. Um der Ungewissheit zu begegnen, braucht es laut Zick einen neuen Friedensplan für Europa.

    Zur Person: Andreas Zick leitet seit 2013 das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld. Er ist Mitherausgeber des seit 2018 regelmäßig erscheinenden Forschungsberichts Multidimensionaler Erinnerungsmonitor (MEMO).

Äußerungen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geben deren eigene Auffassungen wieder. Die Landeszentrale macht sich deren Meinungen nicht zu eigen.