Debatte um „Letzte Generation“ in NRW: Rechtfertigt die Klimakrise zivilen Ungehorsam?
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Kurzfassung
Beschmierte Kunstwerke, versperrte Autobahnzufahrten, blockierte Landebahnen: Die Debatte um die Protestaktionen der Umweltschutzbewegung „Letzte Generation“ spitzt sich weiter zu. Auch in NRW stören die Klimaschützer:innen immer häufiger die öffentliche Ordnung, um ihrem Unmut gegen die Klimapolitik der Bundesregierung Gehör zu verschaffen. Nach diversen „Klebeprotesten“ auf Kölner Hauptverkehrsstraßen besprühten Mitglieder der Klimabewegung zuletzt die Fassade der RWE-Zentrale in Essen, um gegen den geplanten Abriss des Braunkohle-Dorfes Lützerath zu protestieren. Die Innenministerinnen und Innenminister der Länder wollen in den kommenden Monaten ein Lagebild zu den Aktivitäten der Gruppe erstellen. Mitte Dezember wurden bei einer bundesweiten Razzia bereits Räume von Gruppenmitgliedern durchsucht. Doch an den Tabubrüchen der Umweltschutzbewegung spaltet sich die Gesellschaft – auch in Nordrhein-Westfalen.
„Der Staat kann nicht einfach zugucken und das weiterlaufen lassen“
Aus nahezu allen politischen Lagern erntet die „Letzte Generation“ Kritik. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) etwa sieht die Grenzen des legitimen Protests überschritten. „Der Staat kann nicht einfach zugucken und das weiterlaufen lassen“, mahnt Reul Anfang Dezember im DEUTSCHLANDFUNK. Die Gruppe komme in die „Nähe von dem Verdacht, eine kriminelle Vereinigung zu sein“. Als Beobachtungsobjekt für den Verfassungsschutz betrachtet Reul die Klimaschutzbewegung als solche aber nicht, wie T-ONLINE mit Verweis auf einen Bericht des Innenministers für den NRW-Innenausschuss erläutert. In dem Papier, das T-ONLINE vorliegt, heißt es, die „Letzte Generation“ erfülle zwar regelmäßig Straftatbestände – diese seien aber kein Indiz dafür, „dass die Aktivitäten darauf abzielen, den demokratischen Verfassungsstaat oder wesentliche Grundwerte unserer Verfassungsordnung zu beseitigen“. Dennoch wird von links der Vorwurf laut, der Klimaaktivismus werde durch Konservative kriminalisiert – wie in einem TAZ-Gastbeitrag der Linken-Politikerin Martina Renner beschrieben.
Wo endet das demokratische Recht auf Protest? Rechtfertigt die Klimakrise auch extreme Formen zivilen Ungehorsams?
Acht Perspektiven
„‚Letzte Generation‘: Warum ich die Wut der Gruppe verstehe“
Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ), 17.11.2022 - Carlotta Richter
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Die Perspektive in 30 Sekunden
Die Volontärin Carlotta Richter kann die Protestaktionen der „Letzten Generation“ verstehen. Sie glaubt, dass die meisten der Aktivist:innen schlichtweg keinen anderen Weg mehr sehen, um auf die Folgen der Klimakrise aufmerksam zu machen: „[W]as die Proteste vor allem zeigen, ist: Verzweiflung“, hebt die 26-Jährige in ihrem Kommentar in der WESTDEUTSCHEN ALLGEMEINEN ZEITUNG (WAZ) hervor.
Dass die aktuelle Klimapolitik nicht ausreichend sei, bestätige auch der jüngste Bericht des Expertenrats für Klimafragen: Demnach ist es unwahrscheinlich, dass Deutschland sein Klimaziel noch erreichen kann, den Ausstoß an Treibhausgasen bis 2030 um mindestens 65 Prozent im Vergleich zu 1990 zu senken. „Theoretisch könnte ich eine Erderwärmung zwischen 2,2 und 3,5 Grad erleben“, mahnt Richter. „Zumindest, wenn wir weitermachen wie bisher.“ Umso wichtiger sei es, jetzt zu handeln, um die extremen Folgen der Klimakrise noch abzuwenden – und dafür trete die „Letzte Generation“ ein.
Dennoch stoße die Umweltbewegung mit ihren Forderungen weiterhin auf taube Ohren. „Und je knapper der Zeitraum wird, in dem noch Maßnahmen ergriffen werden können, desto größer wird die Verzweiflung darüber, dass nicht genug getan wird“, so Richter. Als Antwort auf die Proteste brauche es jetzt vor allem weitere Klimamaßnahmen. Denn eines sei klar: „Die Folgen des Klimawandels werden uns alle mit sehr großer Wahrscheinlichkeit viel stärker einschränken, als es die Menschen auf den Autobahnen aktuell tun.“
Anmerkungen der Redaktion
Carlotta Richter ist Volontärin bei der FUNKE-Zentralredaktion in Berlin, die die Regionalmedien der FUNKE-Mediengruppe beliefert. Richter hat in München Germanistik im Bachelor sowie Film- und Medienkulturforschung im Master studiert. Während ihres Masters arbeitete sie als Werkstudentin beim FOCUS. Seither ist sie seit September 2021 als Volontärin bei der FUNKE-Zentralredaktion tätig.
Die WESTDEUTSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG (WAZ) ist die größte deutsche Regionalzeitung. Erstmals erschien sie im Jahr 1948. Ihr Hauptsitz ist in Essen, sie erscheint jedoch im gesamten Ruhrgebiet. Im Laufe der Jahre wurden mehrere andere Zeitungen aufgekauft und die „Zeitungsgruppe WAZ“ entstand, die 1997 in „WAZ-Mediengruppe“ umbenannt wurde. Heute wird die WAZ von der Funke-Mediengruppe herausgegeben. Überregionale Themen werden von der Zentralredaktion in Berlin bearbeitet. Wie zahlreiche andere Zeitungen hat auch die WAZ-Mediengruppe stark mit sinkenden Auflagezahlen zu kämpfen. Im dritten Quartal 2022 lag diese bei rund 389.000 verkauften Exemplaren, zu Beginn des Jahrtausends waren es noch knapp dreimal so viele. Dennoch ist die WAZ nach wie vor die größte regionale Tageszeitung in Deutschland.
„Klimaschutz-Bewegung ‚Letzte Generation‘ – Radikal richtig“
Frankfurter Rundschau (FR), 26.11.2022 - Ruth Herberg
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Die Perspektive in 30 Sekunden
Die Politikredakteurin Ruth Herberg findet die Empörung über die „Letzte Generation“ verlogen. Die hitzigen Debatten um die Rechtmäßigkeit der Protestaktionen betrachtet sie vor allem als Ablenkungsmanöver. „Der eigentliche Skandal ist das Versagen beim Klimaschutz“, kommentiert sie in einem Leitartikel in der Tageszeitung FRANKFURTER RUNDSCHAU (FR).
Herberg hält es für überfällig, sich „endlich einmal ernsthaft“ inhaltlich mit dem Anliegen der Gruppe auseinanderzusetzen. Hinter der deutschen „Klimaschutzpolitik“ stecke aktuell nämlich nicht mehr als eine Worthülse: „Die Bundesregierung macht jedenfalls keine Klimaschutzpolitik, die diesen Namen verdient“, kritisiert Herberg. Das 49-Euro-Ticket etwa werde verschoben, es gebe nach wie vor kein Tempolimit – „gegen das nichts, aber auch rein gar nichts spricht“ –, und auch ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung lasse weiterhin auf sich warten, argumentiert die Autorin.
„Alle diese Projekte würden erhebliche Mengen an CO2 einsparen“, unterstreicht Herberg. Doch jahrzehntelang seien Appelle und Warnungen aus der Wissenschaft ignoriert worden. Sie betrachtet die Aktionen der „Letzten Generation“ demnach zwar als „radikal, aber angemessen“. Unser Wohlstand sei „auf Sand gebaut“ – also müsse Protest, „der ernsthaft wachrüttelt und unseren Alltag stört, jetzt erlaubt sein“.
Anmerkungen der Redaktion
Ruth Herberg ist Journalistin und arbeitet als Redakteurin im Politikressort bei der linksliberalen FRANKFURTER RUNDSCHAU (FR). Ihre Beiträge fokussieren sich auf die Innenpolitik. So schreibt Herberg mit Blick auf politische Entscheidungen der Bundesregierung unter anderem über die COVID-19-Pandemie und die Klimapolitik. Herbergs Artikel sind auch in der ZEIT und in der WIRTSCHAFTSWOCHE erschienen.
Die FRANKFURTER RUNDSCHAU (FR) ist eine Tageszeitung mit Sitz in Frankfurt am Main. Sie erschien erstmals 1945 und sollte ein linksliberales Gegenmodell zur eher konservativ ausgerichteten Frankfurter Konkurrenz (FAZ, FNP) darstellen. Durch die Medienkrise brach das sonst auflagenstarke Blatt ab 2001 ein und musste 2012 Insolvenz anmelden. Das Goethe-Institut bemerkte 2011, das einstige „Leitmedium der linken Intellektuellen“ sei redaktionell „bis zur Bedeutungslosigkeit ausgedünnt“. Nach mehreren Übernahmen und Verkäufen in den letzten zwanzig Jahren gehört die FR seit 2018 zur Ippen-Verlagsgruppe, einem der größten Medienkonzerne in Deutschland. Der Ippen-Konzern stand 2021 in der Kritik, weil Verlagschef Dirk Ippen eine kritische Berichterstattung seines verlagseigenen Investigativ-Teams über den umstrittenen Ex-BILD-Chefredakteur Julian Reichelt verboten hat. Die Auflage der FRANKFURTER RUNDSCHAU wird nur zusammen mit anderen Publikationen des Ippen-Konzerns im Raum Hessen ausgegeben: Die verkaufte Auflage dieser insgesamt sechs Publikationen lag im dritten Quartal 2022 bei rund 140.000 Exemplaren.
Die Perspektive in 30 Sekunden
Der Schriftsteller und Verleger Ilija Trojanow versteht nicht, dass die Proteste der Klimaschutzbewegung derart „große moralische Fragen“ aufwerfen. Vor allem das Etikett des „Extremismus“, welches auch der „Letzten Generation“ häufig angeheftet werde, verdiene eine genauere Betrachtung. „Nicht die Kartoffelbreiwerfer und Straßenblockierer sind extremistisch, sondern die Verteidiger des Status quo“, schreibt Trojanow in der TAGESZEITUNG (TAZ).
Der Autor wirft die Frage auf, was extremistischer sei: „Das Bewerfen eines verglasten Bildes mit Suppe oder die giftige Suppe aus Verschwendung, Zerstörung und Klimakatastrophe, die uns der Wachstumswahn eingebrockt hat?“ Seiner Ansicht nach steht dem Aufbegehren für eine lebenswerte, würdevolle Zukunft noch immer die „verkrampfte Verteidigung des Status quo und die rigorose Ablehnung selbst der kleinsten Verbesserung“ gegenüber – etwa beim Fleischkonsum, der durch die Tierhaltung mindestens 16,5 Prozent der globalen CO2-Emissionen ausmache. „Wer genauer hinschaut, entdeckt in der viel beschworenen Mitte unserer Gesellschaft einen extremistischen Wahn des Weiter-so“, so Trojanow.
Wer starr auf „eingefleischte Privilegien“ beharre, der nehme auch in Kauf, dass ein reicher Deutscher etwa tausendmal mehr CO2 emittiere als ein Mensch in Tansania. „[W]ie würden Sie übrigens einen WG-Mitbewohner nennen, der den Kühlschrank leer frisst und Ihnen eine einzige Erbse übriglässt?“, räumt Trojanow ein. Er selbst hält diejenigen, die den gegenwärtigen Zustand zum „allein seligmachenden Dogma“ erheben, für extremistisch. „Mit Sicherheit aber nicht diejenigen, die für eine Welt ohne ökologische Katastrophen und perverse Ungerechtigkeit kämpfen, für eine Welt der Zukunftsfähigkeit.“
Anmerkungen der Redaktion
Ilija Trojanow ist Schriftsteller, Übersetzer und Verleger. Nachdem Trojanow als Kind mit seiner Familie aus Bulgarien floh und in Deutschland politisches Asyl erhielt, studierte er später Rechtswissenschaften und Ethnologie in München. Dort gründete er zwei Verlage, die sich auf afrikanische Literatur spezialisierten – einen Großteil seiner Kindheit verbrachte Trojanow in Nairobi, Kenia. Seit 1996 veröffentlicht Trojanow zudem als Schriftsteller. In seinem Debütroman „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“ verarbeitet er die Erlebnisse als politischer Flüchtling und Asylbewerber in Deutschland. Er wurde 2006 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet und stand auf der Auswahlliste für den Deutschen Buchpreis 2006. Zudem schreibt Trojanow für diverse deutsche Medien, beispielsweise eine regelmäßige Kolumne für die TAZ.
Die TAGESZEITUNG (TAZ) ist eine überregionale deutsche Tageszeitung. Sie wurde 1978 als alternative, selbstverwaltete Zeitung – unter anderem vom Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele – gegründet. Die Zeitung hat sich besonders in ihrer Anfangszeit an Linke, Studierende, Grüne und die Hausbesetzer-Bewegung gerichtet. Erklärtes Ziel der TAZ ist es seither, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Sie gehört heute zu den zehn größten überregionalen Tageszeitungen in Deutschland, mit einer verkauften Auflage von rund 43.000 Exemplaren (3/2022). Nach eigenen Angaben verzeichnet die Webseite TAZ.DE bis zu 12 Millionen Zugriffe monatlich (9/2021). Das Goethe-Institut verortet die TAZ als „grün-linkes“ Blatt und betont besonders die oft sehr kritische Berichterstattung der Zeitung. Eurotopics sieht die TAZ als linkes Medium und stellt die gestaffelte Preisgestaltung und die Entscheidung gegen Online-Bezahlschranken als Besonderheiten der Zeitung heraus. Die TAZ wird genossenschaftlich herausgegeben, jährlich findet eine Generalversammlung statt, an der jedes der zuletzt (2022) rund 22.000 Mitglieder teilnehmen kann.
„Autobahnen blockieren, Kraftwerke besetzen, Kunstwerke beschädigen: Es gibt kein Recht auf zivilen Ungehorsam“
Neue Zürcher Zeitung (NZZ), 23.11.2022 - Thomas Ribi
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Es gibt kein Recht auf zivilen Ungehorsam, konstatiert der Redakteur Thomas Ribi. Wenn die „Letzte Generation“ glaube, sich dem Gesetz widersetzen zu können, weil es durch eine „höhere Notwendigkeit“ – etwa das „Überleben der Menschheit“ – gerechtfertigt sei, dann hält Ribi das für einen Irrglauben: „Allein die Überzeugung, recht zu haben, macht Widerstand noch nicht legitim“, kommentiert der Autor in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG (NZZ).
Wer illegales Verhalten mit einem „edlen Beweggrund“ legitimiere, verstoße dennoch gegen das Gesetz. Aus Sicht des Autors würde die Folgenlosigkeit zivilen Ungehorsams bedeuten, dass über dem Recht des Staates ein höheres Recht stehe, auf das man sich berufen kann, um Gesetze zu unterlaufen. „Aber wer bestimmt, welche Sache die richtige ist? Was genau ist erlaubt, um sie durchzusetzen? Allenfalls auch Gewalt?“, gibt Ribi zu bedenken. Dazu sei es ein Widerspruch, dass die „Letzte Generation“ den Staat einerseits herausfordere, sich andererseits aber auf ein „Recht zum Widerstand“ verlasse. „[K]ann man sich auf das Recht zum Widerstand gegen den Staat berufen, wenn man sich in einem Museum an ein Gemälde klebt oder andere Bürger daran hindert, ihren Aufgaben nachzugehen?“, wendet Ribi ein.
Zwar gehöre das Misstrauen zur Demokratie. „Aber Mehrheitsregeln dürfen nicht nach Belieben ausgesetzt werden, wenn eine Minderheit sie herausfordert“, meint Ribi. In seiner Lesart unterstellt die „Letzte Generation“ der übrigen Menschheit mit ihren Protesten, vom „angeblich drohenden Klimakollaps“ keine Ahnung zu haben. „Es sind Propagandaaktionen von Gruppen, die sich anmassen [sic!], sich im Namen der ganzen Menschheit für ein Anliegen einzusetzen, das ihrer Ansicht nach zu wenig Beachtung findet.“
Anmerkungen der Redaktion
Thomas Ribi ist Redakteur bei der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG (NZZ), wo er vorrangig Essays und Analysen zu politischen, historischen und geisteswissenschaftlichen Themen schreibt. Der gebürtige Zürcher hat in Zürich und München Klassische Philologie, Archäologie, Literaturwissenschaft und Philosophie studiert und daraufhin bei der NZZ im Kulturteil angefangen. Nach mehreren Jahren im (lokal-)politischen Teil der NZZ, unter anderem als Leiter für die Zürcher Stadtpolitik, wechselte er 2015 wieder zum Kulturteil, für den er seither als Redakteur schreibt.
Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG (NZZ) ist 1780 gegründet worden und gilt als Leitmedium im deutschsprachigen Raum sowie als wichtigste überregionale Tageszeitung der Schweiz. Die NZZ wird von EUROTOPICS als liberal-konservativ bezeichnet und hat nach eigener Angabe eine „freisinnig-demokratische“ Ausrichtung. Der NDR schreibt, die NZZ sei gekennzeichnet von einer „urliberalen Haltung, Weltoffenheit und einem nüchternen Ton“; der Medienwissenschaftler Uwe Krüger sieht sie als konservativ, liberal und bürgerlich. Seit Eric Gujer 2015 Chefredakteur wurde, spricht etwa der DEUTSCHLANDFUNK von einem „Rechtsrutsch“ in der Berichterstattung. Der NDR befindet, Gujer habe die „NZZ um typisch rechtskonservative Themen und Meinungen erweitert“. Hierbei wird auch auf die gesonderte Rolle der Berlin-Redaktion der Zeitung verwiesen, etwa von der ZEIT, die diese als treibende Kraft hinter einer Orientierung nach rechts sieht.
„So schmieren Klima-Kleber München aus: Der Rechtsstaat lässt sich vorführen“
Münchner Merkur, 08.12.2022 - Georg Anastasiadis
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Der Staat lässt sich von der „Letzten Generation“ an der Nase herumführen, macht der Chefredakteur Georg Anastasiadis in seinem Kommentar deutlich. Die Gruppierung trage ihren Protest derweil ungehindert auf dem Rücken der Bevölkerung aus: „Wer Flughäfen und (…) Autobahnen blockiert, trifft die Lebensadern einer arbeitsteiligen Gesellschaft und drangsaliert die Fleißigen, die mit ihrer Arbeit unser Land am Laufen halten“, betont er in der Tageszeitung MÜNCHNER MERKUR.
Dass die Straßenblockaden der „Letzten Generation“ immer wieder zu „nicht enden wollenden“ Staus führen, ringt Anastasiadis nur ein Kopfschütteln ab. Immerhin kündige die „Krawalltruppe“ ihre Aktionen sogar im Vorfeld an – etwa die Aktion Anfang Dezember am Münchner Karlsplatz. Zwar sei die Polizei dort mit einer Hundertschaft vor Ort gewesen. „[D]och verhindern konnte sie den Gesetzesverstoß nicht – weil das grün geführte Münchner Kreisverwaltungsreferat (KVR) die Blockadeaktion zuvor vorsorglich zur (erlaubten) Demonstration erklärt hatte“, bemängelt Anastasiadis. Und fragt sich: „Warum lässt sich der Rechtsstaat so vorführen?“
Zwar wurde die Münchner Blockade nur unter der Bedingung genehmigt, dass die Protestierenden sich nicht festkleben. Doch laut Anastasiadis spielte das vor allem den „Rebellen“ in die Karten: „Ihre bisher stets als Straftat verfolgte Klebeaktion schrumpft nun zur Ordnungswidrigkeit (…) mit Bagatellbuße“ – weil es sich juristisch nun lediglich um einen Verstoß gegen Demonstrationsauflagen handele. Das aber sei das „grundfalsche Zeichen“ an eine Bewegung, „die den Rechtsstaat und seine Regeln mit Füßen tritt und in ihrem Katz-und-Maus-Spiel mit der Gesellschaft erkennbar immer radikaler wird“.
Anmerkungen der Redaktion
Georg Anastasiadis ist Journalist und Chefredakteur des MÜNCHNER MERKUR. Er absolvierte sein Volontariat bei der Lokalredaktion ISAR-LOISACHBOTE und hat Volkswirtschaftslehre in München studiert. Im Jahr 2000 übernahm er die Leitung der Wirtschaftsredaktion des MÜNCHNER MERKUR, seit 2016 führt er die Zeitung als Chefredakteur.
Die Tageszeitung MÜNCHNER MERKUR wurde 1949 gegründet und hatte zuletzt eine verkaufte Auflage von rund 212.600 Exemplaren (3/2022). Der MÜNCHNER MERKUR und sein Boulevard-Ableger, die TZ, gehören zur Mediengruppe des westfälischen Verlegers Dirk Ippen. Die politische Grundhaltung des MÜNCHNER MERKURS wird etwa vom Medienmagazin KRESS und der TAZ als konservativ verortet. Der MERKUR gilt in Bayern als Gegenstück zur eher liberalen SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, wobei diese auflagentechnisch im städtischen Raum dominiert; der MERKUR hat aufgrund vieler Lokalausgaben in vielen ländlichen Gebieten hingegen eine Monopolstellung inne. Die Watchblogs ÜBERMEDIEN und der BILDBLOG haben in der Vergangenheit kritisiert, dass es zur journalistischen Praxis des MERKURS gehöre, mit reißerischen Überschriften Reichweite zu generieren.
„Aus der Geschichte nichts gelernt?“
Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 03.12.2022 - Reinhard Müller
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Der Jurist und Journalist Reinhard Müller sieht den Staat in der Pflicht, sich den Protesten der „Letzten Generation“ entschlossen in den Weg zu stellen. „Es gibt keine Alternative zu ordnungsgemäßem Durchgreifen“, kommentiert er in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG (FAZ).
Wenn Regeln einen Sinn haben sollen, dann dürfe der kontinuierliche Regelverstoß durch eine organisierte Gruppe nicht folgenlos bleiben. „Die Proteste laufen lassen?“, gibt der Jurist zu bedenken. Er warnt: „Das wäre die Herrschaft der Straße.“ Deshalb sei nicht nur ein gemeinsames Lagebild sinnvoll, wie die Innenministerinnen und Innenminister es planen. „Es muss auch weiterhin geprüft werden, inwiefern der Tatbestand einer kriminellen Vereinigung vorliegt“, fordert Müller.
Zwar erscheinen die Taten für sich genommen möglicherweise nicht besonders schwer, merkt der Autor an. Doch das sei ebenso wenig entscheidend wie das „hehre Fernziel“ der Gruppe oder ihre „angebliche Selbstlosigkeit“. Müller plädiert dafür, den Rechtsstaat walten zu lassen – und die „Kleber“ in die Schranken zu weisen.
Anmerkungen der Redaktion
Reinhard Müller ist Jurist und Journalist. Seit 1998 ist er Teil der Redaktion der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG (FAZ) und dort verantwortlich für rechtspolitische Themen und Innenpolitik. Seit Juli 2012 ist Müller zudem verantwortlicher Redakteur für die Rubrik „Zeitgeschehen“. Zusätzlich veröffentlicht er seit 2017 das Digital-Format „FAZ Einspruch“, das Rechtsthemen behandelt. In verschiedenen Beiträgen wendet sich Müller gegen die Eheöffnung und ein gemeinschaftliches Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare. Außerdem hält er die Einräumung der doppelten Staatsangehörigkeit für eine „Politik, der jedes Gefühl für Staat und Nation, für Sinn und Form völlig abgeht“.
Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG (FAZ) ist eine deutsche überregionale Tageszeitung. Sie ist 1949 gegründet worden und wird zu den deutschen Leitmedien gezählt. Dies sind Medien, die einen besonderen Einfluss auf die öffentliche Meinung und auf andere Massenmedien ausüben. Laut Eigenangabe steht die FAZ „für den Erhalt und die Stärkung der demokratischen Ordnung und der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland“. Die Zeitung gilt als liberal-konservatives Blatt. THE EUROPEAN schreibt über die „drei Gesichter“ der FAZ: Sie habe einen eher konservativen, staatstragenden Politikteil, ein linksliberales Feuilleton und einen liberalen Wirtschaftsteil. Die verkaufte Auflage der Zeitung lag im dritten Quartal 2022 bei rund 192.000 Exemplaren. Laut Similarweb hatte der Webauftritt der FAZ – FAZ.NET – im Oktober 2022 rund 40 Millionen Besucher:innen zu verzeichnen.
„Letzte Generation: Wenn die Regierung diese Bedingungen erfüllt, ‚gehen wir von der Straße‘“
Remscheider General-Anzeiger (RGA), 05.12.2022 - Carla Hinrichs, Moritz Serif
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„Alle wollen über unseren Protest reden, doch niemand fragt, weshalb junge Menschen überhaupt in den Widerstand gehen“, kritisiert die Pressesprecherin der „Letzten Generation“, Carla Hinrichs, im REMSCHEIDER GENERAL-ANZEIGER (RGA). Im Interview mit Politikredakteur Moritz Serif erzählt die Aktivistin, was die Protestierenden antreibt – und wann die „Letzte Generation“ bereit ist, von der Straße zu gehen.
Hinrichs stellt heraus, dass bereits im Jahr 2050 Ernteverluste von zwei Dritteln drohen, wenn sich die Erde weiter erhitze. Der Temperaturanstieg werde „massiven Hunger“ und „massenhafte Fluchtbewegungen“ verursachen. Derzeit sei sogar von einer Erderhitzung von zwei bis vier Grad bis zum Ende des Jahrhunderts auszugehen. Hinrichs zeichnet dieses Szenario als Nährboden für globale Konflikte: „Bereits bei einer Erhöhung um drei Grad drohen Kriege um Ressourcen. Diese könnten in einen Weltkrieg münden.“
Die „Letzte Generation“ fordere unmittelbare Maßnahmen von der Bundesregierung, um diesem „Notstand“ entgegenzusteuern. Das Neun-Euro-Ticket müsse fortgesetzt und ein Tempolimit von 100 Kilometern pro Stunde auf Autobahnen eingeführt werden. „Damit können wir massiv CO2 einsparen und den ersten Schritt vom Umstieg auf die Bahn ermöglichen“, argumentiert die Aktivistin. „Wenn CO2 eingespart werden soll, um unsere Lebensgrundlagen zu schützen, kann man nicht auf der Autobahn herum rasen.“
Bis die Regierung das erkenne, werde die „Letzte Generation“ ihre Proteste weiterführen – jedoch „stets friedlich“, wie Hinrichs betont. Dass ihre Aktionen dem Image des Klimaschutzes schaden könnten, glaubt die Pressesprecherin nicht. „Die Menschen wollen leben (…) und verstehen, was die drohende Klimakatastrophe für sie und ihre Kinder bedeuten wird“, so Hinrichs. In ihren Augen tritt die „Letzte Generation“ an, um die Verfassung zu schützen. „Für das Recht auf Leben, auch für zukünftige Generationen.“
Ohne Wohlstand zu opfern, sei das allerdings nicht möglich. „Die Gesellschaft muss sich einschränken, denn wir befinden uns in einer Krise“, so Hinrichs. Gleichzeitig dürfe die Wirtschaft nicht länger nach Wachstum streben, sondern müsse bedarfsgerechter agieren – etwa ähnlich einer „Überlebenswirtschaft“, wie von der TAZ-Journalistin Ulrike Herrmann skizziert. „Unser jetziges Leben wird es in den nächsten Jahrzehnten so nicht mehr geben“, appelliert Hinrichs. „Nun müssen wir uns überlegen, wie wir das noch bestmöglich erhalten.“
Anmerkungen der Redaktion
Carla Hinrichs ist Aktivistin, Jura-Studentin und Pressesprecherin des Klima-Bündnisses „Letzte Generation“. Sie engagiert sich politisch, seit sie zwölf Jahre alt ist. Derzeit hat Hinrichs ihr Jura-Studium an der Universität Bremen unterbrochen, um sich in Vollzeit dem Klimaaktivismus widmen zu können. Die „Letzte Generation“ ist ein Bündnis von Aktivist:innen aus der Umweltschutzbewegung, mit dem erklärten Ziel, durch Mittel des zivilen Ungehorsams Maßnahmen der deutschen und der österreichischen Bundesregierung gegen die Klimakrise zu erzwingen. Teile der Gruppe fielen einer breiteren Öffentlichkeit bereits im Sommer 2021 durch einen Hungerstreik vor dem Berliner Kanzleramt auf. Ihre erste Aktionsreihe ist die Kampagne „Essen Retten, Leben Retten“, in der sie unter anderem eine Agrarwende bis 2030 fordern sowie ein neues Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung.
Moritz Serif ist seit 2022 Politikredakteur bei der Ippen-Mediengruppe. Dort schreibt er unter anderem für die FRANKFURTER RUNDSCHAU. Der Fokus seiner Berichterstattung liegt auf Innenpolitik, auf dem Ukraine-Krieg, der Rente und Kryptowährungen. Serif hat Rechtswissenschaften in Mannheim und Heidelberg studiert. Sein Volontariat absolvierte er bei der FRANKFURTER NEUEN PRESSE und der Ippen-Mediengruppe. Anschließend hat er bei FUNKE DIGITAL und T-ONLINE als SEO-Manager gearbeitet.
Der REMSCHEIDER GENERAL-ANZEIGER (RGA) ist eine Regionalzeitung aus Remscheid in Nordrhein-Westfalen. Die derzeitige verkaufte Auflage beträgt rund 12.300 Exemplare (3/2022). Die Zeitung existiert seit 1889, bis 2011 wurde sie vom Familienunternehmen „J. F. Ziegler“ herausgegeben. Seit 2011 gibt das Medienhaus B. Boll die Zeitung heraus. Die Remscheider RGA-Redaktion produziert den Lokalteil der Zeitung, der Mantelteil wird von der WESTDEUTSCHEN ALLGEMEINEN ZEITUNG (WAZ) bezogen. Diese wird wiederum von der FUNKE-Mediengruppe herausgegeben. Der Chefredakteur des RGA ist der Journalist Stefan M. Kob.
Die Perspektive in 30 Sekunden
Der Redakteur Thomas Hummel findet die Kernforderungen der „Letzten Generation“ eher bescheiden. Für die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG (SZ) analysiert der Autor, was dahintersteckt.
Zusammen mit internationalen Partnerorganisationen sei die „Letzte Generation“ im sogenannten „A22-Netzwerk“ vereint. „Die Gruppen des Netzwerks stellen jeweils nur ein bis zwei relativ kleinteilige Forderungen auf“, stellt Hummel fest. So poche die „Letzte Generation“ konkret auf ein Tempolimit von 100 Kilometern pro Stunde auf Autobahnen sowie auf das Neun-Euro-Ticket für den Öffentlichen Nahverkehr. Es gehe um Maßnahmen, die sich „schnell und einfach umsetzen“ lassen, wie auch Karim Dillhöfer, ein Sprecher der Gruppe, gegenüber der SZ bestätigt.
Ähnlich kurz lassen sich laut Hummel die Kernforderungen der internationalen Partnerorganisationen auf den Punkt bringen: In Frankreich fordere die sogenannte „Dernière Rénovation“ von der Regierung, bis 2040 alle Gebäude zu sanieren. In Schweden ziele die Gruppierung „Återställ Våtmarker“ auf die Wiederherstellung von Mooren ab. Die Organisation „Just Stop Oil“ in Großbritannien verlange vom Staat, neue Ölprojekte zu stoppen. Und in Kanada gehe es der Bewegung „Save Old Growth“ um das Ende der Abholzung im Bundesstaat British Columbia.
Lasse die deutsche Bundesregierung sich auf die Kernforderungen der „Letzten Generation“ ein, so sei von einer jährlichen CO2-Ersparnis zwischen 6,37 und 7,5 Millionen Tonnen CO2 auszugehen – je nach Studie. „Zum Vergleich: die deutschen Gesamt-Emissionen im Jahr 2021 lagen bei 762 Millionen Tonnen“, ordnet Hummel ein. Nach der Einschätzung von Niklas Höhne, dem Gründer der Denkfabrik „New Climate Institute“, geht es den Aktivist:innen zunächst um ein klares Bekenntnis zum Klimaschutz: „Da geht es auch um die Signalwirkung“, zitiert die SZ den Experten für nationale und internationale Klimapolitik.
Gleichzeitig deute die „Letzte Generation“ aber an, dass das Tempolimit und das Neun-Euro-Ticket erst der Anfang seien. „Danach müssen natürlich weitere Maßnahmen kommen“, merkt der Sprecher der Gruppe dem Beitrag zufolge gegenüber der SZ an. Thematische Schwerpunkte setze die „Letzte Generation“ auf die Agrarwende, Verkehrswende und Energiewende.
Anmerkungen der Redaktion
Thomas Hummel ist Redakteur bei der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG (SZ). Er hat Literaturwissenschaften studiert und später ein Volontariat bei der SZ absolviert. Mittlerweile schreibt er dort regelmäßig über Gesellschaft, Politik, Verkehr und Sport. Er hat sich vermehrt mit dem neuen Klimaschutzpaket der EU namens „Fit for 55“ auseinandergesetzt, welches er als „mutig und richtig“ bezeichnet. Ein weiterer Fokus seiner Arbeit liegt auf der Recherche zum Thema Umwelt und Fleischkonsum.
Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG (SZ) ist eine deutsche überregionale Tageszeitung aus München. Sie erscheint seit 1945 als Nachfolger der MÜNCHNER NEUSTE NACHRICHTEN. Seit 1947 wird sie von der „Süddeutschen Verlags GmbH“ produziert und ist besonders durch ihre „Seite Drei-Reportagen“ und die kritische Glosse „Streiflicht“ bekannt. Mit einer Auflage von zuletzt 295.518 Exemplaren (3/2022) ist sie in Deutschland nach der BILD die zweitmeist verkaufte deutsche Tageszeitung – auch wenn ihre Auflage insgesamt abnimmt. Dagegen nimmt die digitale Auflage in Form von E-Paper zu und liegt bei nun 99.700 Exemplaren. Die Blattlinie der Zeitung gilt als linksliberal. Zusammen mit dem WDR und dem NDR hat die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG einen investigativen Rechercheverband, der zahlreiche investigative Recherchen veröffentlichte, unter anderem zu Steuerschlupflöchern oder über die Ibiza-Affäre um den damaligen FPÖ-Vorsitzenden Strache. Für die Aufklärung über die sogenannten „Panama Papers“ erhielten SZ-Journalist:innen 2017 einen Pulitzer-Preis für investigative Recherche.