Das Fluchtfahrrad von Ernst Humberg

Jüdisches (Über)Leben im 20. Jahrhundert: Dingdener Geschichtsort Humberghaus

Ein alltägliches Fortbewegungsmittel als Zeuge einer von Verfolgung und Neuan-fängen tief geprägten und weltweit verflochtenen Familiengeschichte mit Ursprung in der Grenzregion von Münsterland, Niederrhein und Niederlanden: Das Fahrrad Ernst Humbergs, mit dem 1938 seine Flucht vor den Nationalsozialisten begann, ist heute ein zentrales Objekt im Dingdener Geschichtsort Humberghaus.

Als im November 1938 führende Nationalsozialisten Gewalt gegen Jüdinnen und Juden sowie jüdische Einrichtungen verordneten, standen am späten Abend des 9. Novembers, der später als Reichspogromnacht bezeichnet wurde, auch SA-Leute vor der Haustür Ernst Humbergs in Brünen. Seine Frau Hilde, hochschwanger, öffnete. Sie versuchte den Mob aufzuhalten, der Zutritt zum Haus verlangte. Die SA-Leute misshandelten sie, drangen gewaltsam in das Haus ein und verwüsten es.

Weil seine Frau Hilde diesen gewaltsamen Hausfriedensbruch verzögern konnte, gelang Ernst, der bereits geschlafen hatte, die Flucht aus dem Hinterhaus. Er fürchtete um sein Leben, versteckte sich und lief zu Fuß zu befreundeten Bauern nach Dingden-Berg. Am nächsten Morgen, 10. November 1938, erschien er sehr früh auf dem Hof, auf dem er tags zuvor sein Korn gedroschen hatte. Der Hofbesitzer gab ihm Kleidung, u.a. Socken und Schuhe. Auch sein Fahrrad, das am vorigen Tag wegen eines platten Reifens auf dem Hof stehen geblieben war, konnte Ernst mitnehmen. Der Eigentümer des Hofes hatte es bereits repariert. Für seine Fluchthilfe verhaftete die Polizei den Hofbesitzer wenig später, ließ ihn allerdings nach einer Woche wieder frei. Ernst entkam auf dem Fahrrad in die Niederlande. Die „grüne Grenze“ zu den Niederlanden überquerte er in der Kleidung des Hofbesitzers und mit einer Heugabel auf der Schulter getarnt als einfacher Bauer.

Von Westendorp aus organisierte er die Emigration seiner kleinen Familie nach Kanada, wo er bis 1957 in Winnipeg lebte. Hilde konnte noch rechtzeitig mit ihrer mittlerweile geborenen Tochter Ruth in die Niederlande ausreisen, von wo aus sie ihr Weg im April 1939 gemeinsam über Rotterdam und Liverpool nach Halifax in Kanada führte. Die in der Pogromnacht beschädigten Möbel ließ die Familie von einem befreundeten Schreinermeister in Dingden reparieren und für die Überseereise in Kisten verpacken – das Fluchtfahrrad ging mit.

Zu den Nachfahren pflegt der Heimatverein Dingden e.V. bis heute enge Kontakte. Tochter Ruth und Enkeltochter Susan waren es, die das Fluchtfahrrad nach der Eröffnung des Geschichtsorts 2012 von Kanada zurück nach Dingden brachten. An der Gravur in der Klingel lässt es sich eindeutig zuordnen. Heute ist es ein herausragendes Objekt im Geschichtsort Humberghaus, in dem der Heimatverein an das Leben und Wirken der jüdischen Familie Humberg in Dingden, jetzt ein Ortsteil der Stadt Hamminkeln erinnert.

Ernst Humberg wurde als siebtes Kind von Abraham und Rosalia Humberg – den ehemaligen Bewohnern des heutigen Geschichtsorts – 1893 in Dingden geboren. Hier ging er zur Schule, wechselte dann zur Ausbildung und Arbeit in Nachbarorte. Im Ersten Weltkrieg kämpfte er für Deutschland und kehrte ausgezeichnet mit mehreren Orden zurück an den Niederrhein. In Brünen übernahm er das Viehgeschäft von David Wertheim, einem Onkel seiner Frau Hilde.

Nicht nur diskriminierende Gesetze und die ständig drohende Gefahr einer willkürlichen Verhaftung, auch die Haltung vieler „Volksgenossen“ und der Druck durch wirtschaftlichen Boykott drängte überall im Reich, damit auch am Niederrhein und im westlichen Münsterland, die Jüdinnen und Juden zur Auswanderung. Doch die Ausreise musste teuer bezahlt werden: Finanzbehörden und andere staatliche Stellen verlangten enorm hohe Sonderabgaben, jüdische Firmeneigentümer waren zur Aufgabe ihrer Unternehmen gezwungen. Wie für viele andere deutsche Juden führte auch Ernst Humbergs Fluchtweg zunächst ins benachbarte Ausland. Von dort gelang ihm mit seiner noch jungen Familie die Auswanderung nach Kanada, wo sie sicher vor den deutschen Besatzungstruppen leben konnten.
Während Ernst Humberg mit seiner jungen Familie die Flucht ins Ausland gelang, endete die NS-Herrschaft für viele seiner Familienangehörigen tödlich. Die vier von Ernsts sechs Geschwistern, die nicht nach Kanada fliehen konnten, wurden Opfer der Nationalsozialisten. Johanna wurde nach Riga deportiert, wo sich ihre Spur verliert. Leopold kam in Theresienstadt zu Tode. Die Familien der Schwester Helene und des Bruders Wilhelm wurden in Konzentrationslagern ermordet.

Bereits unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 bekam die Familie erste Ausgrenzungen und Misshandlungen zu spüren, erfuhr aber von einzelnen Bekannten und Nachbarn auch Hilfe. So steht auch die Fluchtgeschichte Ernst Humbergs stellvertretend für den Anspruch des heutigen Geschichtsorts in seinem Elternhaus: Anhand von einzelnen Biographien und ihren Verflechtungen in die Region die Geschichte jüdischen Lebens am Niederrhein im 20. Jahrhundert zu erzählen. Die Dauerausstellung und die Bildungsangebote zur Alltagsgeschichte einer jüdischen Fa-milie in der Grenzregion von Münsterland und Niederrhein rücken dabei nicht nur die Verfolgungserfahrungen während der NS-Zeit in den Fokus, sondern widmen sich explizit dem Leben dieser jüdischen Dingdener Bürgerinnen und Bürger in einer weitgehend katholisch geprägten Dorfgemeinschaft.

Als 2001 die Mitglieder des Heimatvereins Dingden e.V. ihr Museum und ein Archiv ausbauen wollten, begannen sie mit der Sanierung des benachbarten Hauses in der Hohen Straße 1. Dabei stießen sie auf viele vereinzelte Spuren jüdischen Lebens. Schnell wurde klar: Das Haus stellt für die Denkmalpflege einen seltenen Glückfall dar. Denn die Bewohner und Besitzer haben nach 1941 kaum Bauveränderungen vorgenommen und so haben sich viele authentische Details aus der Wohn- und Nutzungsgeschichte des Hauses und des jüdischen Lebens in Dingden erhalten. Neben Wandornamenten oder Steinböden fand der Heimatverein auch eine sehr selten erhaltene Privatmikwe, ein jüdisches Badebecken für rituelle Reinigungen. Mit Unterstützung durch den Landschafts-verband Rheinland wurden die Hausdetails rekonstruiert. Während dieser Renovierungen mehrten sich auch die Informationen aus der Bevölkerung. Zunehmend erinnerte sich die Bevölkerung in Dingden an ihre jüdischen Nachbarinnen und Nachbarn. Auch anhand von Zeitzeugengesprächen ließen sich immer mehr Familien- und Dorfgeschichten aufarbeiten – darunter die Flucht Ernst Humbergs im November 1938 mit dem in der Ausstellung präsentierten Fahrrad.

So lässt sich auch die Einbindung der jüdische Familie Humberg in die Dorfgemeinschaft bis 1933 und deren schrittweise Ausgrenzung in der NS-Zeit nachvollziehen. Denn Spuren der Verfolgung der Familie Humberg finden sich an verschiedenen Stellen. Neben der Eingangstür ist noch heute der Abdruck des Firmenschildes der Familie Humberg („Abraham Humberg - Viehhandel“) sichtbar. Das Schild selbst wurde bereits am 30. Januar 1933, dem Tag der als Machtergreifung inszenierten Regierungsübernahme Hitlers, von Mitgliedern der SA an dieser Stelle abgeschlagen.

Seit 2012 können sich Besucher des Dingdener Geschichtsorts in die Atmosphäre des Hauses um 1940 einfühlen. Wie an kaum einem anderen Ort in Deutschland machen das Haus an sich, seine Ausstattung und seine Dauerausstellung, jüdisches Alltagsleben im ländlichen Raum in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachvollziehbar.

Das Haus, seine historische Ausstattung, Möbel oder Fotografien stehen im Mittelpunkt der Dauerausstellung. Zurückhaltende Informationen zur Familie Humberg, Freunden oder ihren Erlebnissen sind um die historischen Objekte behutsam platziert worden. Ausführliche Hintergründe stehen Besuchern in digitalem Format zur Verfügung. Zeitzeugen, Mitglieder des Heimatvereins, Experten und Nachfahren der Familie Humberg schildern anschaulich Leben und Alltag im Humberghaus. Grafische Interpretationen der Er-eignisse und des Lebens im Hause stützen die Vorstellungskraft der Besucher. Die Zeichnungen des Illustrators Lars Baus halten Momente des Lebens im Haus fest, ohne konkrete Personen ins Bild zu rücken.

Projektträger des Geschichtsorts Humberghaus ist der Heimatverein Dingden e.V. Der Verein zählt über 600 Mitglieder. Nur wenige Meter vom Geschichtsort Humberghaus entfernt befindet sich in einem ehemaligen Stallgebäude der Familie Humberg das Heimat-haus.

Weitere Informationen:
www.heimatverein-dingden.de
www.humberghaus.de