Chancengleichheit für alle: Braucht NRW mehr Inklusion im Schulunterricht?

10.06.2022 - Themenbereiche: Bildung, Nordrhein-Westfalen

(Foto von: SOZIALHELDEN / Originalbild: https://www.flickr.com/photos/sozialhelden/15039894989/in/photolist-oV2oNi-pcwA1R-pcwDgi-pauwVQ-pcwFNc-oV3nJG-oV2TsJ-oV2oG6-pauCCG-pauCtU-oV2p4P-oV2ow6-Ncqb72-oveaFK-ovdw9d-oMFuRq-ovebUX-ovdtxR-oKFoYQ-oMHgnk-oveaMr-ovdTsy-MSKBcs-MSKFY1-oMrnTe-oKFpj9-Mni2bm-oMFw1j-ovdtUc-ovdSXf-oveaqz-oMrmSM-oKFpdN-oMHgfM-ovdukH-ovduqH-ovdsxz-Mni6KS-oMFuCj-oKFofq-oMrnwx-oMFupJ-oMHfUr-ovdTiA-ovduWU-oKFoz3-ovdU9U-oMHhyD-MSKDUS-oMHgsk / Lizenz: CC BY 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)

Kurzfassung

Die Inklusion ist die größte Reform in der Geschichte der Pädagogik“, lobte der emeritierte Professor für Lernbehinderten- und Inklusionspädagogik Hans Wocken im Interview mit dem DEUTSCHEN SCHULPORTAL die Entwicklung der Inklusion in Deutschland. Auch in Nordrhein-Westfalen ist die Inklusion auf Vormarsch: In den letzten zehn Jahren hat sich die Inklusionsquote in NRW mehr als verdoppelt. Im Schuljahr 2020/21 wurden insgesamt 44,6 Prozent der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an allgemeinen Schulen und nicht an Förderschulen unterrichtet, 2011/12 waren es laut Angaben des Landesbetriebs Information und Technik Nordrhein-Westfalen noch 19,7 Prozent. Nicht wenige wünschen sich Inklusion als alleiniges Modell und die schrittweise Ablösung von Förderschulen.

Förderschulen und die Politik in Nordrhein-Westfalen

Als Förderschulen werden Schulen bezeichnet, die extra für Menschen mit Lern- und Entwicklungsbehinderungen eingerichtet worden sind und an denen geschultes Personal arbeitet, um Menschen mit sonderpädagogischem Förderbedarf intensiv zu betreuen. Die Hauptkritik an dieser Schulform fassen die Bildungsforscher Marcel Helbig und Sebastian Steinmetz wie folgt zusammen: „Dieses Konzept geht […] zulasten des sozialen Miteinanders“. Förderschulen erschwerten eine gesellschaftliche Integration von Menschen mit Behinderung, stellten die beiden Forscher in einer Studie fest. Kinder, die an Förderschulen unterrichtet werden, könnten das Ziel einer gesellschaftlichen Teilhabe nur schwer erreichen – im Gegensatz zu Kindern, die eine Regelschule besucht haben.  

In den schwarz-grünen Sondierungsgesprächen spielt Bildungspolitik eine wichtige Rolle. Laut Sondierungspapier streben beide Parteien die Beibehaltung der aktuellen Regelung an, Eltern sollen weiterhin die Wahlfreiheit haben, ob ihr Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf entweder an einer Förderschule unterrichtet wird – oder an einer allgemeinen Schule. Kritische Stimmen warnen jedoch: Solange es Förderschulen gibt, wird man das Ziel einer gelungenen Inklusion nicht erreichen können. Aber auch Lehrkräfte an Regelschulen warnen: Auch wenn Inklusion auf dem Papier gut aussieht, funktioniert sie noch längst nicht in der Praxis.

Was also tun? Braucht es weniger Förderschulen und mehr Inklusion in Nordrhein-Westfalen?

Acht Perspektiven

„Die Inklusion ist nicht gescheitert!“

Außergewöhnlich gut leben, 29.03.2019 - Marion Mahnke

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Die Perspektive in 30 Sekunden

„‚Inklusion‘ ist ein Grundwert. Nicht nur im Schulgesetz, sondern auch in unserem Grundgesetz verankert“, findet Diplom-Religionspädagogin Marion Mahnke. Sie fordert auf ihrem Online-Blog AUßERGEWÖHNLICH GUT LEBEN, auf dem sie sich mit dem Alltag von Kindern mit körperlichen oder geistigen Behinderungen auseinandersetzt: „Wenn wir etwas für die Schülerinnen und Schüler der Regelschulen tun möchten und unserem Bildungsanspruch gerecht werden wollen, dann brauchen wir Inklusion.“ Daher brauche es mehr Inklusion – und weniger Förderschulen.

Im Grundgesetz werde in Artikel 1 die Menschenwürde als Grundwert unserer Gesellschaft definiert: Um Schulkindern diesen Wert zu vermitteln, dürften Kinder mit Behinderungen nicht vom normalen Schulleben ausgeschlossen werden, so Mahnke. Gleichzeitig folge aus Artikel 1 des Grundgesetzes, „dass Schule als würdevoller Lern- und Lebensraum gestaltet wird“ – und zwar für alle schulpflichtigen Kinder.

Inklusion biete zudem viele Vorteile – nicht nur für Kinder mit Behinderungen, sondern auch für die Schüler:innen der „Regelschulen“. Wenn Inklusion praktiziert werde, lernen Kinder laut Mahnke andere Menschen zu akzeptieren, ungeachtet ihrer Fähigkeiten oder ihres Aussehens. Fest macht die Religionspädagogin das an ihrer eigenen Erfahrung: Ihre älteste Tochter und ihr Sohn seien nur deswegen zu „sozial kompetenten, verantwortlichen, selbstbewussten Menschen“ geworden, weil der Umgang mit ihrer „mittlere[n] Tochter mit Down-Syndrom und Autismus“ ihnen diese Werte vermittelt habe.

Anmerkungen der Redaktion

Marion Mahnke ist freiberuflich als Coach tätig und Expertin für Special Needs Parenting. Sie war in mehreren sozialen und gemeinnützigen Einrichtungen tätig. Seit 2004 war sie selbstständig als Fachkraft in der Elternberatung und als Honorarkraft tätig. Seit 2014 hat sie Privatkunden und hält Vorträge und Seminare zu Kommunikations- und Coachingthemen. Sie hat ein soziales Jahr als Pflegekraft absolviert und Religionspädagogik studiert.

AUßERGEWÖHNLICH GUT LEBEN ist ein Online-Blog über den Alltag mit Kindern mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen. Geführt wird der Blog von der Diplom-Religionspädagogin Marion Mahnke, die hauptberuflich persönlicher Coach, Lebensberaterin und Elterntrainerin ist. Mahnke ist selbst Mutter von einem schwerbehinderten Kind. Deshalb hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, Frauen und Männer dabei zu unterstützen, ihre beruflichen und privaten Lebensziele zu verfolgen. Spezialisiert ist sie auf Eltern, die Kinder mit Beeinträchtigungen großziehen. Dabei bietet sie auf ihrem Blog Sprechtermine an, um direkt Hilfestellung zu geben. Dazu kann man über ihren Blog Seminare und Workshops buchen.

„Verkaufsschlager Förderschule? Warum weiterhin in ein gescheitertes System investiert wird“

Inklusionsfakten, 16.01.2020 - Lisa Reimann

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Die Perspektive in 30 Sekunden

„Wenn wir eine inklusive, antidiskriminierende Gesellschaft wollen, brauchen wir ein inklusives Schulsystem und die Schließung der Förderschulen“, stellt Inklusionsberaterin Lisa Reimann auf ihrem Blog INKLUSIONSFAKTEN klar. Auf dem Blog versucht Reimann, Vorurteile gegen Inklusion abzubauen und für mehr Inklusion in deutschen Schulen zu werben. Viele Studien hätten bereits gezeigt, dass Kinder mit Behinderungen besser in Regel- als in Förderschulen lernten, so Reimann.

Gleichzeitig seien Kinder, die inklusiven Schulunterricht an einer Regelschule ermöglicht bekommen, weniger von Stigmatisierung betroffen und erreichten eher einen Schulabschluss. Dabei sei niemand von den positiven Folgen eines inklusiven Schulsystems ausgeschlossen: „Auch Kinder mit basalen Lernbedürfnissen (‚Schwerer Mehrfachbehinderung‘), Kinder mit Autismus und Kinder mit dem Förderbedarf emotionale-soziale Entwicklung profitieren vom Gemeinsamen Unterricht [sic!]“, so Reimann. Denn im normalen Unterricht „werden Empathie, Rücksichtnahme und der Fokus auf die unterschiedlichen Bedürfnisse gefordert“.

Hinderlich für den Ausbau eines inklusiven Schulsystems seien im Übrigen die Förderschulen. Der „Glaube an das Gute der Förderschule“ halte sich hartnäckig, obwohl viele Studien für die Inklusion sprächen. Auch die Wahl der Schulform durch die Eltern hält Reimann für keine gute Idee: Oftmals könnten sich Eltern nämlich nur zwischen einer schlecht betreuten Inklusion und einer gut betreuten Förderschule entscheiden. Dabei wäre es ihrer Meinung nach sinnvoller, das Betreuungspersonal für die Inklusion einzusetzen. Förderschulen sollten daher abgeschafft und die Inklusion ausgebaut werden.

Anmerkungen der Redaktion

Lisa Reimann ist Inklusionsberaterin, freie Dozentin und Bloggerin. Sie ist ehrenamtliche Vorstandsvorsitzende bei „Indiwi – Inklusion erleben“ und Beiratsmitglied der Stiftung Bildung. Ihre Schwerpunkte liegen auf inklusiver Pädagogik und Antidiskriminierungspädagogik. Reimann gibt Seminare und Workshops. Sie ist Betreiberin des Blogs INKLUSIONSFAKTEN.de und hat Pädagogik studiert.

INKLUSIONSFAKTEN ist ein Online-Blog der Inklusionsberaterin Lisa Reimann über Mythen und Fakten im Bereich inklusive Bildung. Ihr Ziel ist es, für mehr Aufklärung zu sorgen und gegen Falschinformationen zu Behinderungen vorzugehen. Die studierte Pädagogin schreibt Artikel über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und vorurteilsbehaftete Aussagen zur inklusiven Bildung. Dabei setzt sich Reimann dafür ein, dass behinderte Kinder nicht vom Unterricht ausgeschlossen werden. Gerade dann nicht, wenn diese auf eine Schule gehen wollen, die nicht auf Kinder mit Beeinträchtigung spezialisiert ist. Außerdem hält Reimann auch Vorträge und verweist auf ihrem Blog auf Initiativen wie „mittendrin e.V“ und „Leidmedien.de“. Bei ihren Aussagen verweist sie auf verschiedene Expert:innen und Quellen, die auf ihrem Blog verlinkt sind. Der letzte Beitrag auf INKLUSIONSFAKTEN ist aus dem Jahr 2020.

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„Behinderung wird in der Arbeitswelt noch immer als Makel gesehen“

Die Zeit, 08.02.2022 - Stephanie Aeffner, Franziska Schindler

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Die Perspektive in 30 Sekunden

Inklusiver Schulunterricht sei wichtig, damit Kinder mit Behinderungen nicht länger „in einer Sonderwelt leben“ müssen, erklärt die Bundestagsabgeordnete Stephanie Aeffner (Grüne). Aeffner ist in ihrer Fraktion Berichterstatterin für Behindertenpolitik und Sozialhilfe. Im Interview mit ZEIT-ONLINE-Hospitantin Franziska Schindler stellt Aeffner klar: Menschen mit Behinderungen leben immer noch in einer Sonderwelt – und daran trage auch das Schulsystem Schuld.

„Ich kann Eltern verstehen, die ihr Kind auf eine Förderschule schicken, weil die Ausstattung dort besser ist“, räumt die Bundestagsabgeordnete ein. Trotzdem sei es wichtig, jetzt die Prozesse anzustoßen, die Menschen mit Behinderungen in Zukunft helfen könnten. „Wir sind daran gewöhnt, dass [Menschen mit Behinderung] in unseren Lebenswelten nicht vorkommen, dass wir sie in Werkstätten, Heime und Förderschulen abschieben können“, gibt Aeffner zu bedenken.

Das wirke sich kontraproduktiv auf die Chancen von Menschen mit Behinderung aus. Denn oftmals würden sie nicht mitgedacht. Beispielsweise beim Bau von Gebäuden oder bei der Gestaltung des Arbeitsmarktes. So hätten es Menschen mit Behinderung nach der COVID-19-Pandemie schwerer, wieder einen Job zu finden. Auch an Arzttermine zu gelangen, sei für Menschen mit einer Behinderung noch schwerer, als es ohnehin sei: „Ärztinnen und Ärzte befürchten oft, dass sie für Patienten mit bestimmten Vorerkrankungen sowohl deutlich mehr Zeit benötigen als auch viele teure Medikamente verschreiben müssen, weswegen sie dann Rückforderungen von den Krankenkassen bekommen“, erläutert Aeffner. Eine echte Integration müsse daher schon von klein auf anfangen: nämlich in den Schulen.

Anmerkungen der Redaktion

Franziska Schindler ist Schülerin im 40. Lehrgang der Henri-Nannen-Journalistenschule. Sie ist Hospitantin im Ressort Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bei ZEIT ONLINE. Artikel von ihr sind z.B. in der TAZ und in der AMADEU ANTONIO STIFTUNG erschienen – besonders zu gesellschaftspolitischen Themen.

Stephanie Aeffner ist eine Grüne Politikerin und seit 2021 Mitglied im Deutschen Bundestag. Aeffner sitzt seit 1999 im Rollstuhl und ist aktuell Mitglied im Ausschuss für Arbeit und Soziales. Dazu ist sie in ihrer Fraktion Berichterstatterin für Behindertenpolitik und Sozialhilfe. Aeffner interessierte sich schon frühzeitig für die Politik, war aber zunächst beruflich als Sozialarbeiterin tätig. Von 2016 bis 2021 war Stephanie Aeffner Landes-Behindertenbeauftragte in Baden-Württemberg.

DIE ZEIT ist die größte deutsche Wochenzeitung und hat ihren Sitz in Hamburg. DIE ZEIT erscheint seit 1946 und wurde von ihren ersten beiden Chefredakteuren Ernst Samhaber und Richard Küngel zunächst als rechts-konservatives Blatt ausgelegt. Erst in den 1960er Jahren wurde die Wochenzeitung durch Marion Gräfin Dönhoff und den langjährigen Chefredakteur Theo Sommer als liberales Medium ausgerichtet. Dönhoff prägte DIE ZEIT bis 2002 und hat sie von 1968 bis 1972 herausgegeben, ab 1983 gemeinsam mit Altkanzler Helmut Schmidt (SPD). In gesellschaftspolitischen Fragen gilt DIE ZEIT als grundsätzlich (links-)liberal, hat allerdings auch viele Gastbeiträge aus dem gesamten Meinungsspektrum oder stellt Beiträge mit gegensätzlichen Meinungen gegenüber. Der NDR urteilt, DIE ZEIT gelte als „Blatt der Akademiker und Intellektuellen“ — und sei damit durchaus erfolgreich. Tatsächlich gehört DIE ZEIT zu den wenigen deutschsprachigen Printmedien, die seit der Digitalisierung an Auflage gewonnen haben. Zuletzt lag diese bei knapp 611.000 Exemplaren (1. Quartal 2022).

„Wenn Eltern für Exklusion kämpfen“

Raul.de, 03.08.2021 - Raul Krauthausen

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Die Perspektive in 30 Sekunden

Der Inklusionsaktivist Raul Krauthausen befindet das Konzept der Inklusion zwar für gut. Aber wenn Eltern sich aus bestimmten Gründen für eine Förderschule entscheiden, sollte das respektiert werden, fordert er auf seinem Blog RAUL.DE.

Krauthausen war selbst ein Inklusionsschüler an einer Regelschule, die ihm Abitur, Studium und Beruf ermöglichte. Trotzdem findet Krauthausen: In Zwang sollte auch ein inklusives Schulsystem nicht enden. „Es gibt nach wie vor Neugründungen von Förderschulen in Deutschland, zum Beispiel in Berlin – angeblich als Reaktion auf den Elternwillen“, führt der Inklusionsaktivist aus. Und der Wille der Eltern sollte letzten Endes unbedingt respektiert werden.

„Familien kämpfen für ihre Kinder und tun, was sie für das Beste halten“, zitiert Krauthausen den Kommunikationsdirektor der Non-Profit-Organisation MCIE, Tim Villegas, der sich für inklusive Schulbildung in den USA einsetzt. Dieser Einsatz für die eigenen Kinder sollte einem Respekt abverlangen – und nicht mit in Zwängen endenden Beratungsgesprächen quittiert werden. Wichtig sei es dennoch, dass es mehr Förderpädagog:innen auch in den Regelschulen gebe, nicht nur in Förderschulen. Denn dann würden vielleicht auch mehr Familien von sich aus eine inklusive Schulbildung bevorzugen.

Anmerkungen der Redaktion

Raul Krauthausen ist Medienmacher, Moderator und Inklusionsaktivist. Er ist Gründer der SOZIALHELDEN und beschäftigt sich seit 15 Jahren beruflich mit Medien. Dazu hat er einen eigenen Blog und Podcast. Auf SPORT1 hat er seit 2015 eine eigene Talkshow „KRAUTHAUSEN – face to face“. Zuvor brachte er im Jahr 2014 seine Biografie „Dachdecker wollte ich eh nicht werden – Das Leben aus der Rollstuhlperspektive“ heraus. Krauthausen ist Rollstuhlfahrer und kleinwüchsig.

RAUL.DE ist die Website des bekannten Inklusionsaktivisten Raul Krauthausen. Er führt einen Blog, einen Podcast und unterstützt zahlreiche soziale Projekte – darunter auch einige, die er selbst gegründet hat, zum Beispiel den Verein SOZIALHELDEN. Bei seinem Podcast unterhält sich Krauthausen mit bekannten Künstler:innen und Aktivist:innen. Er setzt sich in seinem Blog für soziale Gerechtigkeit ein und berichtet viel über das Leben im Rollstuhl. Dazu beschäftigt sich Krauthausens Blog viel mit Barrierefreiheit. 2021 erschien sein Buch „Wie kann ich was bewegen“, das er zusammen mit Benjamin Schwarz geschrieben hat. Raul Krauthausen hat Osteognesis imperfecta (Glasknochen) und ist kleinwüchsig.

„Interviews zur Inklusion: ein Thema – drei Ansichten“

Schulimpulse.de, 31.03.2022 - Steffi Pahl

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Die Perspektive in 30 Sekunden

Auf einem Blog zum Thema Grundschule, SCHULIMPULSE.DE, wurden von der Studentin Steffi Pahl Interviews mit Lehrer:innen veröffentlicht, die sich aus ihrer Erfahrung zum Thema Inklusion im Schulunterricht äußern. Gerade Machbarkeitsüberlegungen sprechen aus der Erfahrung eines 36-jährigen Grundschullehrers gegen mehr Inklusion an Regelschulen. Denn es seien längst nicht alle Schulen und Lehrer dafür vorbereitet und ausgebildet, „mit allen Entwicklungsbesonderheiten umzugehen“.

Auch im Unterricht selbst sei die Integration vieler Kinder mit verschiedenen Förderschwerpunkten „ein nahezu unlösbares Problem für den gemeinsamen Unterricht aller Kinder“. „Nehmen wir an, ich habe 20 Kinder in einer Klasse, die schon heterogen sind und ein Anrecht auf differenzierte Angebote haben. Gleichzeitig habe ich einen Schüler mit dem Schwerpunkt ‚Sehen‘ und einen Schüler mit dem Schwerpunkt ‚Hören‘. Schon in dieser relativ überschaubaren Vielfalt wäre ich nicht in der Lage, den Schülern bedürfnisgerechte Angebote zu machen“, erläutert der Grundschullehrer. Das Resultat seien Überforderung bei einigen – und Unterforderung bei anderen Schüler:innen in der Klassengemeinschaft.

Zusätzlich sehe er sich gar „nicht in der Lage, ein blindes Kind zu unterrichten oder ein hörgeschädigtes, autistisches oder geistig behindertes Kind“, führt der seit 13 Jahren unterrichtende Lehrer aus. Auch prinzipiell sinnvolle didaktische Methoden wie das „Schleichdiktat“ oder die „bewegte Pause“ würden in Inklusionsklassen problematisch. Beim Schleichdiktat gehe es beispielsweise darum, dass Kinder die Fähigkeit des Abschreibens entwickeln. „Für ein Kind im Rollstuhl ist ein Schleichdiktat vermutlich schwierig zu bewerkstelligen“, gibt der Lehrer zu Bedenken. Sinnvoller findet der Lehrer daher das Konzept von Förderschulen, in denen jede:r gemäß der eigenen Bedürfnisse lernen könne.

Anmerkungen der Redaktion

Steffi Pahl führte im Rahmen ihres Studiums für eine Belegarbeit Interviews mit drei Pädagog:innen einer Grundschule. Diese Interviews sind auf der Website SCHULIMPULSE verkürzt veröffentlicht. Die Interviewten bleiben dabei anonym. Die Arbeit beschäftigt sich mit dem Thema Inklusion bei der Schulbildung.

SCHULIMPULSE ist eine von Andreas Grajek geleitete und gegründete Website. Dort werden Beiträge über Lerntraining für Grundschulen und Lehrkräfte veröffentlicht. Das Ziel des Blogs ist es, Impulse für freudiges Lernen in der Grundschule zu geben. Dabei gibt es auf der Website auch Tipps, wie Lehrer:innen am besten mit geflüchteten beziehungsweise traumatisierten Kindern umgehen. Das Team von SCHULIMPULSE besteht aus drei Grundschullehrer:innen und einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin des Instituts für Botanik an der Technischen Universität Dresden. Außerdem veröffentlichen sie regelmäßig Magazine.

„Abschlussfest in der Förderschule“

Inklusion muss laut sein, 06.04.2022 - Frau Eberth

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Die Perspektive in 30 Sekunden

Die ehemalige Förderschullehrerin Carolin Eberth schildert auf der Website des Vereins INKLUSION MUSS LAUT SEIN ihre Erfahrungen mit dem Konzept von Förderschulen. INKLUSION MUSS LAUT SEIN setzt sich für die Rechte von Menschen von Behinderung und einen Ausbau der Barrierefreiheit ein. „Unter bestimmten Bedingungen und Voraussetzungen ist Inklusion durchaus sinnvoll, jedoch nicht uneingeschränkt und nicht für jede Art der Behinderung eines Kindes“, stellt die ehemalige Förderschullehrerin Eberth klar. Gerade für Kinder, die unter Ängsten und Sorgen in Regelklassen zu leiden hätten, könnte die Förderschule die richtige Wahl sein.

Förderschulen böten vor allem Kindern aus sozial schwachen Familien eine „schöne und sehr wertvolle Erfahrung von Zusammenhalt und Geborgenheit“, meint Eberth. Förderschulen ermöglichten es zusätzlich, dass Kindern vielfältigere Unterrichtsmöglichkeiten, Pausen und Ruhezeiten angeboten werden könnten: Angebote, die in Regelschulen unter Umständen gar nicht möglich wären.

Als ehemalige Förderschülerin habe sie sich immer wohlgefühlt, erinnert sich Eberth: „Bei jedem einzelnen Besuch in meiner ehemaligen Schule, fühle ich mich absolut positiv in meine eigene Schulzeit zurückversetzt und denke an meinen eigenen, für mich sehr schönen, aber auch sehr schmerzlichen Tag des Abschiedes von meiner ehemaligen Schule mit allen Lehrkräften, sowie damaligen Mitschülerinnen und Mitschülern zurück.“

Anmerkungen der Redaktion

Carolin Eberth setzt sich für Förderschulen ein und ist selbst zur „Johann Heinrich Pestalozzi“ in Sondershausen gegangen. Die „Johann Heinrich Pestalozzi“ in Sondershausen ist Teil des Staatlich Regionalen Förderzentrums. Eberth setzt sich für den Erhalt ihrer Schule ein. Dazu fordert sie bessere räumliche Bedingungen.

INKLUSION MUSS LAUT SEIN ist eine gemeinnützige Unternehmergesellschaft, die ehrenamtlich für die Rechte von Menschen mit Behinderung eintritt und sich für Barrierefreiheit einsetzt. 2009 wurde die Organisation gegründet und hat seitdem mehrere Auszeichnungen bekommen, unter anderem den „Deutschen Integrations Preis“. Das Team aus Ehrenamtlichen informiert und berät unter anderem bei öffentlichen Kulturveranstaltungen. Denn gerade Veranstaltung wie Konzerte sind oftmals nicht barrierefrei. Über ihre Website und Social Media werben sie für ihr BUDDIE Projekt – Ehrenamtliche begleiten Menschen mit körperlicher oder psychischer Beeinträchtigung zu Festivals, Konzerten oder Alltags-Hobbys. Vertreten wird INKLUSION MUSS LAUT SEIN durch Ron Paustian.

„Inklusion – kein Thema mehr? Wie sieht es eigentlich aktuell mit der Umsetzung der UN-BRK aus?““

Schule21, 01.06.2022 - Nicole Hollenbach-Biele

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Die Perspektive in 30 Sekunden

Während die Diskussion um ein inklusives Schulsystem wegen der COVID-19-Pandemie abgeflaut sei, habe das Thema eigentlich nicht an Relevanz verloren, analysiert Schulforscherin Nicole Hollenbach-Biele für den Blog SCHULE21 der Bertelsmann-Stiftung. Denn Deutschland habe die UN-Behindertenrechtskonvention bereits 2009 ratifiziert – der Umsetzung der Konvention sei Deutschland aber noch nicht wirklich nähergekommen.

Das Gesetz verpflichte dazu, ein inklusives Schulsystem zu entwickeln, das sicherstelle, dass „Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderungen vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen ausgeschlossen werden“, zitiert Hollenbach-Biele den 24. Artikel der Konvention. Gleichzeitig würden immer mehr Kinder mit Förderbedarf gemeldet: Seit 2009 seien rund zwei Prozent mehr Kinder mit Förderbedarf an Regelschulen eingeschrieben.

An der „Exklusionsquote“ habe sich trotzdem seit 2009 nicht viel geändert. Die Exklusionsquote beschreibt den Anteil, wie viele der Schulkinder in Deutschland Förderschulen besuchen. 2009 besuchten noch 4,8 Prozent der Kinder Förderschulen, 2021 waren es rund 4,3 Prozent. Die Exklusionsquote wird errechnet, indem man die Zahl aller Kinder, die eine Förderschule besuchen, teilt durch die Zahl aller Schulkinder. Anders als die Inklusionsquote: Denn die beschreibt die Zahl aller inklusiv unterrichteten Kinder in Regelschulen im Vergleich zu den Kindern mit sonderpädagogischen Förderbedarf, die in Förderschulen unterrichtet werden. Dem Ziel, „Kinder mit Behinderungen, nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen“ auszuschließen, sei Deutschland damit nicht wirklich nähergekommen, resümiert Hollenbach-Biele.

Anmerkungen der Redaktion

Nicole Hollenbach-Biele ist Senior Expertin für Schulforschung und Schulentwicklung im Programm Bildung und Next Generation der Bertelsmann-Stiftung. Seit 2010 setzt sie sich dafür ein, dass Kinder chancengerechter lernen können. Auch das Thema Inklusion im Bildungsbereich liegt ihr am Herzen. Damit einhergehen die Entwicklung von Qualitätsfragen rund um das Lernen und den quantitativen Ausbau.

SCHULE 21 ist ein Verein, der 2006 von der Haus- & Ateliergemeinschaft in Bremen gegründet wurde. Er versteht sich als Förderer für Menschen aus den Bereichen bildender und darstellender Kunst, Musik, Theater, Literatur, Handwerk und Wissenschaft. Es werden regelmäßig Veranstaltungen organisiert, hauptsächlich im Bremer Stadtteil Hemelingen. Leiter des Vereins ist Dirk Otten. Auf ihrem Blog setzt sich das Team außerdem für Inklusion im Bildungsbereich ein. Dabei wird sowohl das Thema COVID-19 als auch digitale Bildung eingebracht. Der Blog existiert seit 2021; Ziel ist es, das Schulsystem allgemein zu verbessern.

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„Das Kratzen an der gläsernen Decke“

Die Zeit, 08.02.2022 - Barbara Peveling

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Die Perspektive in 30 Sekunden

Frankreich mache in puncto Inklusion einiges besser als Deutschland, erklärt die Autorin und Anthropologin Barbara Peveling in der ZEIT. Peveling ist die Mutter eines Kindes mit Lernbehinderung, mit dem sie für eine bessere Schulbildung nach Frankreich gezogen sei. Denn anders als in Deutschland seien Behinderungen in Frankreich nicht stigmatisiert: Kinder mit Behinderungen werden weniger ausgegrenzt und weniger von ihnen verlangt, sich an die Mehrheitsgesellschaft anzupassen, so Peveling.

Es stimme zwar, dass Deutschland bis zur Sekundarstufe gute und inklusive Förderkonzepte für Kinder mit Behinderungen anbiete. Ab dann müssten viele Kinder aber oft in Förderschulen, aufgrund von Personalmangel an Regelschulen – und weil das Recht auf Bildung an einer Regelschule in Deutschland nicht gesetzlich festgeschrieben sei. Kinder, die gefördert werden müssten, könnten unter Umständen sogar einer Regelschule verwiesen werden. Beispielsweise, wenn eine Regelschule nicht genug Ressourcen habe, um das Kind zu fördern. In Frankreich können Schulen Kinder nur dann ablehnen, wenn es medizinische Gründe dafür gibt. Schulen sind dort – anders als in Deutschland – per Gesetz dazu verpflichtet, Kinder mit Behinderungen aufzunehmen.

Diese gesetzlich festgeschriebene Inklusion gelte in Frankreich im Übrigens schon lange, erläutert Peveling: „Hier wurde 1989 auf Initiative des damaligen Bildungsministers Lionel Jospin das Recht auf Bildung ins Gesetzbuch geschrieben.“ 2005 sei dann das Gesetz auf Chancengleichheit hinzugekommen. Inklusion könne daher in Frankreich eingeklagt werden – eine Segregation wie in Deutschland gebe es dort weniger.

Anmerkungen der Redaktion

Dr. Barbara Peveling ist Autorin und Anthropologin. Sie lebt in Deutschland und Frankreich und schreibt für die ZEIT. Dazu ist sie Gastautorin von „10 nach 8“. 2009 brachte Peveling ihren ersten Roman „Wir Glückspilze“ heraus. Ihr nächster Roman „Rachid Rebellion“ erschien 2017. 2015 wurde sie mit dem „Manfred Görg Preis“ ausgezeichnet, für ihre Dissertation „Zwischen Orient und Okzident“. Außerdem hat Peveling einen deutsch-französischen Podcast mit Cécile Calla. Dieser heißt „Medusa spricht“. Barbara Peveling ist darüber hinaus Lehrbeauftragte an der HS Düsseldorf.

DIE ZEIT ist die größte deutsche Wochenzeitung und hat ihren Sitz in Hamburg. DIE ZEIT erscheint seit 1946 und wurde von ihren ersten beiden Chefredakteuren Ernst Samhaber und Richard Küngel zunächst als rechts-konservatives Blatt ausgelegt. Erst in den 1960er Jahren wurde die Wochenzeitung durch Marion Gräfin Dönhoff und den langjährigen Chefredakteur Theo Sommer als liberales Medium ausgerichtet. Dönhoff prägte DIE ZEIT bis 2002 und hat sie von 1968 bis 1972 herausgegeben, ab 1983 gemeinsam mit Altkanzler Helmut Schmidt (SPD). In gesellschaftspolitischen Fragen gilt DIE ZEIT als grundsätzlich (links-)liberal, hat allerdings auch viele Gastbeiträge aus dem gesamten Meinungsspektrum oder stellt Beiträge mit gegensätzlichen Meinungen gegenüber. Der NDR urteilt, DIE ZEIT gelte als „Blatt der Akademiker und Intellektuellen“ — und sei damit durchaus erfolgreich. Tatsächlich gehört DIE ZEIT zu den wenigen deutschsprachigen Printmedien, die seit der Digitalisierung an Auflage gewonnen haben. Zuletzt lag diese bei knapp 611.000 Exemplaren (1. Quartal 2022).