NRW-Regierung zeigt sich offen: Sollte das Containern bald straffrei sein?

24.02.2023 - Themenbereiche: Nordrhein-Westfalen, Politik, Umwelt und Nachhaltigkeit
Offener Müllcontainer vor Mauer in der Dunkelheit

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Kurzfassung

Überreife Bananen, welker Kopfsalat, abgelaufene Joghurts: Laut Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) schmeißt der deutsche Lebensmittelhandel jährlich rund 800.000 Tonnen Nahrungsmittel in den Müll. Ein Teil dieser Waren schafft es trotzdem noch auf den Teller: „Containern“ nennt sich der Vorgang, bei dem Menschen aussortierte Lebensmittel aus dem Abfallcontainer fischen – im Kampf gegen die Lebensmittelverschwendung oder weil schlichtweg das Geld nicht reicht.

Doch klar ist: Wer Lebensmittel aus den Supermarkttonnen entwendet, der macht sich strafbar – zumindest noch. Seit Anfang des Jahres werben Bundesagrarminister Cem Özdemir (Grüne) und Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) bei den Ländern dafür, Containern nur noch dann zu bestrafen, wenn gleichzeitig auch Hausfriedensbruch oder Sachbeschädigung begangen wird – Mülltonnen also etwa demoliert oder Schlösser aufgebrochen werden.

Das NRW-Justizministerium unter Benjamin Limbach (Grüne) zeigte sich zuletzt offen: Man werde den Vorschlag „wohlwollend und konstruktiv“ prüfen, erklärte eine Sprecherin Mitte Februar gegenüber dem REDAKTIONSNETZWERK DEUTSCHLAND (RND).

„Es kann nicht sein, dass Menschen für ihre Lebensmittel im Müll suchen müssen“

Aus den Reihen des Düsseldorfer Koalitionspartners sind Gegenstimmen zu hören – unter ihnen der Sprecher für Arbeit, Gesundheit und Soziales der CDU-Fraktion, Marco Schmitz. Er hält die Entkriminalisierung des Containerns für den falschen Schritt: „Es kann nicht sein, dass Menschen für ihre Lebensmittel im Müll suchen müssen“, plädiert er im WDR. Und auch dem Handel sind die aus ihrer Sicht ungebetenen Gäste vielfach ein Dorn im Auge.

Bis März sollen die Länder eine Stellungnahme abgeben. Sollte das Containern also bald straffrei sein?

Acht Perspektiven

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„‚Straffreies Containern wäre ein Statement gegen Lebensmittelverschwendung‘“

Apotheken Umschau, 16.01.2023 - Benedikt Jahnke, Jessica Roth

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Die Perspektive in 30 Sekunden

Benedikt Jahnke, Forscher für Agrar- und Lebensmittelmarketing an der Universität Kassel, hält den Vorstoß der Bundesregierung, das Containern nicht länger strafrechtlich zu verfolgen, für einen wichtigen Schritt. „Die Straffreiheit wäre (…) ein deutliches Zeichen und politisches Statement im Kampf gegen Lebensmittelverschwendung“, konstatiert Jahnke im Interview mit der Ärztin Jessica Roth für das Gesundheitsmagazin APOTHEKEN UMSCHAU.

Die Ampel-Koalition habe es sich zum Ziel gesetzt, die Lebensmittelabfälle bis 2030 pro Kopf zu halbieren. Laut Jahnke ist dieses Vorhaben aber nur dann realisierbar, wenn sich auch das öffentliche Bewusstsein wandelt. Zwar könne durch das Containern rein mengenmäßig nicht besonders viel ausgerichtet werden. Und doch lege es den Finger an der richtigen Stelle in die Wunde – denn es führe vor Augen, dass die aktuellen Qualitätsnormen des Handels unnötige Lebensmittelabfälle förmlich provozieren.

Zudem habe eine seiner Studien aus dem Jahr 2021 ergeben, dass die Bevölkerung das Containern überwiegend unkritisch betrachte. Auch Jahnke persönlich hält es weder aus ethischer noch aus moralischer Sicht für gerechtfertigt, Menschen für das Retten von Lebensmitteln zu verurteilen. „Ich frage mich, was Supermarktbetreiber und Staatsanwaltschaften veranlasst aktiv zu werden, wenn dabei kein Sachschaden entstanden ist und alles sauber hinterlassen wurde“, so der Forscher.

Anmerkungen der Redaktion

Benedikt Jahnke ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Ökologische Agrarwissenschaften an der Universität Kassel. Er beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Agrar- und Lebensmittelmarketing. Hier forscht er unter anderem zu alternativen Proteinquellen wie Insekten und Essen im Ökohandel. Jahnke arbeitet seit 2011 für den Fachbereich: bis 2013 zunächst als Studentische Hilfskraft, seit 2015 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter. Er hat in Kassel Ökologische Agrarwissenschaften im Bachelor und Wirtschaft und Soziologie im Master studiert.

Jessica Roth ist Ärztin und Volontärin in der Redaktion des Wort & Bild Verlags, der unter anderem die APOTHEKEN UMSCHAU herausgibt. Sie hat in Erlangen Medizin studiert und dort auch promoviert. Vor ihrer Zeit bei Wort & Bild hat sie in einer Klinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie gearbeitet.

Die APOTHEKEN UMSCHAU ist ein Gesundheitsmagazin, das in Apotheken als kostenlose Kundenzeitschrift angeboten wird. Die APOTHEKEN UMSCHAU erscheint zweimal monatlich, zuletzt in einer verkauften Auflage von rund 7.360.000 Exemplaren (4/2022). Die Zeitschrift erscheint seit 1956 als wichtigstes Produkt des Wort & Bild Verlags. Die APOTHEKEN UMSCHAU finanziert sich durch Anzeigenverkäufe und ihren Verkauf an Apotheken. Der Verkaufspreis ist dabei gestaffelt, bei einer Mindestabnahme von 50 Exemplaren liegt er bei 52 Cent pro Stück. Das Magazin der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG bezeichnet die lange als „Rentner-Bravo“ verspottete Zeitschrift als „geniales Geschäftsmodell mit einer Auflage wie das Telefonbuch, Anzeigenpreisen eines Wirtschaftsmagazins und dem Seitenumfang einer Modezeitschrift“. Der DEUTSCHLANDFUNK kritisierte 2012, Apotheken seien aufgrund der Erwartungshaltungen ihrer Kunden und der Monopolstellung der Zeitung quasi dazu gezwungen, die APOTHEKEN UMSCHAU zu bestellen.

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„Containern ist kein Verbrechen“

ND, 10.01.2023 - Stefan Otto

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Die Perspektive in 30 Sekunden

Wer Lebensmittel rettet, darf nicht bestraft werden, findet der Redakteur Stefan Otto. „Was ist denn schon dabei, wenn nach Ladenschluss Menschen in die Container der Supermärkte schauen, ob dort Essen weggeschmissen wird, das noch genießbar ist?“, gibt er in der Tageszeitung ND zu bedenken.

Ein guter Teil der Lebensmittel in Deutschland wandere in den Müll – und das sei ein ernstzunehmendes gesellschaftliches Problem. „Das Handeln der Leute, die Lebensmittel aus der Tonne klauben, ist aber keins“, kommentiert er. Und zwar auch dann nicht, wenn es als illegal eingestuft werde.

Zwar seien Kooperationen zwischen dem Handel und Lebensmitteltafeln oder Foodsharing-Gruppen, die den Überschuss an Bedürftige verteilen, womöglich eleganter als das Containern. „Aber kriminalisiert werden sollten die zumeist jungen Menschen nicht, die ohne Erlaubnis in die Abfallbehälter schauen“, so Otto.

Anmerkungen der Redaktion

Stefan Otto ist Redakteur bei der linken Tageszeitung ND. Dort arbeitet er seit 2013 im Politik-Ressort. Otto hat Germanistik, Geschichte und Soziologie in Potsdam studiert. Otto äußerte sich im November 2021 in einer Bilanz zu Angela Merkels Flüchtlingspolitik kritisch: Der Satz „Wir schaffen das“ sei hinfällig, denn eigentlich habe Deutschland angesichts der humanitären Krisen an den EU-Grenzen versagt. Deutschland hätte mehr unternehmen müssen, die Flüchtlingskrise international zu lösen.

ND (ehemals NEUES DEUTSCHLAND) ist eine überregionale Tageszeitung, die einen „Journalismus von links“ vertreten möchte. Im zweiten Quartal 2022 lag die verkaufte Auflage der ND bei rund 16.000 Exemplaren. Zu DDR-Zeiten war sie das publizistische Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und gehörte nach der Wende der Partei PDS. Deren Nachfolgepartei DIE LINKE besaß bis Ende 2021 noch 50 Prozent der Anteile an der Zeitung. Seit 2022 wird die Zeitung von einer Genossenschaft herausgegeben und gehört den Leser:innen und Mitarbeiter:innen aus Redaktion und Verlag. ND beschreibt sich selbst als Tageszeitung, „die mit linkem Ideengut über den Tellerrand des journalistischen Alltags hinausdenkt“. Die Konrad-Adenauer-Stiftung bescheinigt der Zeitung eine einseitige Berichterstattung: Marktwirtschaft sei „Kapitalismus“, westliche Außenpolitik „Imperialismus“. Außerdem sei die Zeitung DDR-nostalgisch. So sei ND bis zur Wende 1989 „Organ des Zentralkomitees“ der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) gewesen, berichtet der SPIEGEL. ND selbst bezeichnet ihr DDR-Format als „trockenes Partei- und Staatsblatt, das sich nach 1990 im kapitalistischen Deutschland neu erfinden musste“.

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„Containern: Gebt den Abfall endlich frei!“

Watson, 10.01.2023 - Rebecca Sawicki

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Die Perspektive in 30 Sekunden

„Gebt den Abfall endlich frei!“, fordert die Politikredakteurin Rebecca Sawicki auf dem Nachrichtenportal WATSON. Menschen Diebstahl anzulasten, weil sie entsorgte Lebensmittel weiterverwenden, hält sie für eine „schwachsinnige Regelung“. Ohnehin attestiert sie Deutschland in Sachen Lebensmittelverschwendung Nachholbedarf – was auch ein Blick ins Ausland beweise.

In Frankreich seien große Lebensmittelgeschäfte etwa dazu verpflichtet, Waren an Hilfsorganisationen wie die örtliche Tafel weiterzugeben. „Es drohen Strafen bis zu 3750 Euro, wenn dies nicht geschieht“, so Sawicki. Zudem werde es Bürger:innen ermöglicht, zu klagen, wenn sie feststellen, dass dennoch Lebensmittel entsorgt werden. 

Auch in Tschechien müssen Supermärkte abgelaufene Lebensmittel an Wohltätigkeitsorganisationen weitergeben, hebt Sawicki hervor. Bei Verstößen müsse bei dem osteuropäischen Nachbarn sogar mit Strafen bis zu 390.000 Euro gerechnet werden. „Das ist doch mal ein Ansporn“, lobt die Politikredakteurin.

In Deutschland seien dagegen jegliche Bestrebungen, die Lebensmittelverschwendung einzudämmen, abgeschmettert worden. Das Containern nicht länger zu bestrafen, wäre ein guter Anfang, findet Sawicki. Noch sinnvoller sei es aber, Supermärkte für das Wegwerfen zur Kasse zur bitten – so wie in Frankreich und Tschechien.

Anmerkungen der Redaktion

Rebecca Angela Sawicki ist Journalistin. Die studierte Politik- und Medienwissenschaftlerin ist derzeit als Politikredakteurin bei WATSON tätig. Zuvor arbeitete sie als Redaktionsvolontärin bei der Bremer Tageszeitung WESER KURIER und als Werkstudentin in der Onlineredaktion der FREIEN PRESSE.

WATSON ist ein Schweizer Nachrichtenportal, das junge Menschen erreichen will, „die mit Smartphones statt Zeitungen aufgewachsen sind“. Der Fokus liegt dabei auf Nachrichten, Unterhaltung und Debatten. In der politischen bzw. gesellschaftspolitischen Berichterstattung nehmen die Autor:innen von WATSON oft linksliberale Positionen ein. Das Portal hat eine klare Haltung gegen die europäische Flüchtlingspolitik, engagiert sich gegen die AfD und verwendet gendergerechte Sprache. Die Schweizer Ausgabe des Portals (http://WATSON.CH) existiert bereits seit 2014 und gehört dem Zürcher Medienunternehmen FixxPunkt AG. Die deutsche Lizenzausgabe von WATSON erscheint seit 2018 über Ströer Media, die unter anderem auch T-ONLINE.DE und GIGA.DE herausgibt.

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„Nein, das ‚Containern‘ darf nicht straffrei sein“

Die Welt, 03.01.2023 - Christoph Kapalschinski

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Die Perspektive in 30 Sekunden

Der Vorstoß zum Containern sollte möglichst bald vom Kabinettstisch verschwinden, meint der Wirtschaftsjournalist Christoph Kapalschinski. „Bisher ist es verboten – aus gutem Grund, denn die Gefahren sind größer als der Nutzen“, warnt Kapalschinski in seinem Kommentar für die Tageszeitung DIE WELT.

Mit bloßem Auge sei es nicht ersichtlich, weshalb die Waren im Müll gelandet sind. Das könne nicht nur gesundheitsschädlich sein, sondern es führe auch zu Haftungsrisiken, falls sich jemand an den Lebensmitteln vergiften sollte. Nicht zuletzt deshalb stehe auch der Handel dem Containern kritisch gegenüber: „Es ist nachvollziehbar, dass die Supermarkt-Mitarbeiter es nicht dulden wollen, wenn (…) unkontrolliert verdorbene Ware verschwindet“, so Kapalschinski.

Seiner Meinung nach gelingt es dem Handel ohnehin immer besser, die Lebensmittelverschwendung zu reduzieren: „Viele Anbieter geben über Apps wie ‚Too Good to Go‘ ihre Reste zu vergünstigten Preisen ab“, unterstreicht er. Zudem gebe es vielerorts eine enge Zusammenarbeit mit den Tafeln. „Das ist allemal besser, als Reste unkontrolliert über Container zur freien Verfügung zu stellen“, resümiert Kapalschinski.

Anmerkungen der Redaktion

Christoph Kapalschinski ist Journalist und Redakteur bei der Wirtschafts- und Finanzzeitung HANDELSBLATT. Seit 2022 arbeitet er zudem als Redakteur für Wirtschaft und Innovation bei der Tageszeitung DIE WELT und ihrer Sonntagsausgabe, der WELT AM SONNTAG. Kapalschinski hat von 1999 bis 2004 Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Journalistik in Hamburg studiert und zwischen 2005 und 2006 ein Volontariat an der Georg-von-Holtzbrinck-Schule für Wirtschaftsjournalist:innen in Düsseldorf absolviert. Hier machte Kapalschinski unter anderem Station bei der Wirtschaftszeitung WIRTSCHAFTSWOCHE und der Wochenzeitung DIE ZEIT. 2006 hat Kapalschinski begonnen, beim HANDELSBLATT zu arbeiten. Bis 2010 war er zunächst Redakteur vom Dienst und Blattmacher im Ressort Unternehmen & Märkte der Düsseldorfer Zentralredaktion. Anschließend war er dort bis 2015 Redakteur für Unternehmen & Märkte, mit den Fachgebieten Konsumgüter, Textilwirtschaft und Nahrungsmittel. Danach wechselte er als Redakteur für Unternehmen & Märkte nach Hamburg. Diese Position hatte er bis 2019 inne, er fokussierte sich dabei weiterhin auf Konsumgüter und Nahrungsmittel, wechselte in seinem dritten Fachgebiet aber zum Einzelhandel. Seit 2019 ist Kapalschinski Redakteur in Hamburg und Berlin für Unternehmen & Märkte im Technologie-Team mit dem Schwerpunkt Start-ups.

DIE WELT ist eine überregionale Tageszeitung mit Sitz in Berlin, die zum Axel Springer Konzern gehört. Sie wurde 1946 gegründet und erschien zuletzt in einer verkauften Auflage von rund 89.000 Exemplaren (4/2022). Anfang 2010 lag diese noch bei über 250.000. Chefredakteurin der WELT ist seit dem 1. Januar 2022 Jennifer Wilton. EUROTOPICS bezeichnet die WELT als konservativ. In ökonomischen Fragen positioniert sich die Zeitung meist wirtschaftsliberal. Das Goethe-Institut urteilt, die WELT ziele in ihrer Printausgabe auf „mittelständische Unternehmer und Selbstständige, die konservative Werte schätzen“. WELT-Autor:innen bekennen sich zu den Leitlinien des Axel-Springer-Verlages, die unter anderem ein Eintreten für „die freie und soziale Marktwirtschaft“ sowie Solidarität mit den USA und Israel fordern.

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„Mehr als Mundraub: Containern ist wie Klimaschutz“

Tagesspiegel, 15.01.2023 - Jost Müller-Neuhof

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Die Perspektive in 30 Sekunden

Der Rechtspolitische Korrespondent Jost Müller-Neuhof hält es aus juristischer Sicht für kompliziert, das Containern straffrei zu machen. Denn was für Außenstehende womöglich simpel klinge, das sei im Detail problematisch: „Den Diebstahlsparagrafen 242 im Strafgesetzbuch kann man nicht so einfach streichen“, gibt der Kommentator im TAGESSPIEGEL zu bedenken.

Nach dem Gesetzgeber sei Eigentum ein Grundrecht – und es bleibe auch dann Eigentum, wenn es in den Müll kommt. Ausnahmen zum Diebstahlsparagrafen zu schaffen, schätzt Müller-Neuhof als kleinteiliges Unterfangen ein. Aufgrund der Komplexität des Verfahrens seien Justizminister Marco Buschmann (FDP) und Ernährungsminister Cem Özdemir (Grüne) inzwischen dafür, lediglich die Richtlinien für Staatsanwaltschaften so anzupassen, „dass Containern durch den Rost fällt“. Müller-Neuhof wendet jedoch ein, dass die meisten dieser Verfahren ohnehin „auf kleiner Flamme gekocht werden“ – es also nur selten zu schwerwiegenden Strafen komme.

Der Autor betont, Containern sei vor allem ein Symbol: gegen die Überflussgesellschaft, den Massenkonsum, die Wegwerfmentalität. Ein „paar neue Sätze“ in Verwaltungsvorschriften seien zu klein, um das dahinterliegende Problem anzupacken. „[E]s braucht ein Gesamtkonzept, das den Handel einbindet und zu Verwertung anreizt oder sogar verpflichtet, begleitet von Kampagnen, die den Lebensmittelmüll der Privathaushalte in den Fokus nehmen.“

Anmerkungen der Redaktion

Jost Müller-Neuhof arbeitet seit 2001 beim TAGESSPIEGEL, zunächst als Politikredakteur, derzeit als Rechtspolitischer Korrespondent. Zudem vertritt der studierte Jurist die Zeitung als Rechtsanwalt und ist Mitglied im Deutschen Presserat. An der Freien Universität Berlin hat er seit 2002 einen Lehrauftrag im Bereich Rechtskommunikation. Im Jahr 2017 sorgte Müller-Neuhof in der Öffentlichkeit für Wirbel, als er vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig gegen den Bundesnachrichtendienst (BND) klagte. Der TAGESSPIEGEL-Redakteur verlangte mehr Transparenz über Hintergrundgespräche des BND, unter anderem hinsichtlich der teilnehmenden Medienvertreter:innen und Themen. 2019 gab das Gericht Müller-Neuhof recht: Der BND ist seitdem gesetzlich verpflichtet, der Presse Auskunft über Hintergrundgespräche mit Journalist:innen zu erteilen.

DER TAGESSPIEGEL ist eine 1945 gegründete Tageszeitung aus Berlin. Die Auflage hat im vierten Quartal 2022 rund 104.000 Exemplare betragen. Im Unterschied zur BERLINER ZEITUNG wird der TAGESSPIEGEL traditionell vor allem in den westlichen Bezirken der Stadt gelesen, da die Mauer die Verbreitung der Zeitung auf Westberlin beschränkt hatte. Seit 2014 erhält der TAGESSPIEGEL besondere Aufmerksamkeit durch den Checkpoint Newsletter, der täglich aus Berlins Politik, Wirtschaft und Gesellschaft berichtet. EUROTOPICS beschreibt die Blattlinie der Zeitung als liberal. Der TAGESSPIEGEL wurde lange Zeit den regionalen Zeitungen zugerechnet, verfolgt seit einigen Jahren jedoch verstärkt eine überregionale Ausrichtung. Die Printauflage bleibt jedoch stark regional dominiert.

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„Armut wird straffrei“

Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 04.02.2023 - Mark Siemons

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Die Perspektive in 30 Sekunden

Der Feuilletonredakteur Mark Siemons bewertet die Straffreiheit des Containerns als herabwürdigend für von Armut betroffene Menschen. „Die angestrebte Entkriminalisierung des Containerns ändert nichts an der Demütigung, die der Vorgang für viele mit sich bringt“, kommentiert er in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG (FAZ).

Einen sozialen Charakter bekomme ein Containerhof durch die in Aussicht gestellte Neuregelung nämlich noch lange nicht. „[F]ür die, die im Müll anderer wühlen müssen, um satt werden zu können, bleibt er (…) ein Ort demonstrativer und sogar institutionalisierter Ungleichheit“, schreibt Siemons. Das eigentlich Skandalöse bestehe darin, dass es für die Supermärkte aus steuerrechtlichen Gründen am einfachsten sei, noch essbare Lebensmittel mit abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum wegzuwerfen – weil das Finanzamt auch „Sachspenden“ als umsatzsteuerpflichtige Entnahmen werte. Eine Ausnahmeregelung existiere lediglich für die Tafeln.

Siemons kritisiert, dass Nahrungsmittel durch diesen Missstand „systematisch von Menschen ferngehalten werden, die sie brauchen“. In diesem Lichte erscheine der Abfallcontainer nicht nur als Symbol der sozialen Erniedrigung, sondern auch der Auslagerung politischer Verantwortung. Siemons mahnt: „Einer Regierung, die ‚eine Gesellschaft des Respekts‘ verspricht, sollte man ihn nicht als Lösung durchgehen lassen.“

Anmerkungen der Redaktion

Mark Siemons ist Redakteur im Feuilleton der FAZ. Er hat Geschichte, Philosophie und Kunstgeschichte in Bonn und Köln studiert. Während seines Studiums hospitierte er bereits bei der FAZ, wo er nach seinem Studium in die Feuilletonredaktion einstieg. Von 1996 bis 2005 war er für die FAZ als Kulturkorrespondent in Berlin tätig, von 2005 bis 2014 in Peking. Seither arbeitet er wieder aus Berlin. Er ist Autor mehrerer Bücher, beispielsweise von „Jenseits des Aktenkoffers. Vom Wesen des neuen Angestellten“.

Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG (FAZ) ist eine deutsche überregionale Tageszeitung. Sie ist 1949 gegründet worden und wird zu den deutschen Leitmedien gezählt. Dies sind Medien, die einen besonderen Einfluss auf die öffentliche Meinung und auf andere Massenmedien ausüben. Laut Eigenangabe steht die FAZ „für den Erhalt und die Stärkung der demokratischen Ordnung und der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland“. Die Zeitung gilt als liberal-konservatives Blatt. THE EUROPEAN schreibt über die „drei Gesichter“ der FAZ: Sie habe einen eher konservativen, staatstragenden Politikteil, ein linksliberales Feuilleton und einen liberalen Wirtschaftsteil. Die verkaufte Auflage der Zeitung lag im vierten Quartal 2022 bei rund 190.000 Exemplaren. Laut Similarweb hatte der Webauftritt der FAZ im Dezember 2022 rund 45 Millionen Besucher:innen zu verzeichnen.

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„Wie Leon Lebensmittel aus Containern rettet“

Südwestrundfunk (SWR), 24.01.2023 - Frederik Herrmann

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Die Perspektive in 30 Sekunden

Der Multimedia-Reporter Frederik Herrmann hat sich um 23 Uhr vor einem Supermarkt in Trier verabredet – mit Leon, der dort regelmäßig Containern geht. Im SÜDWESTRUNDFUNK (SWR) berichtet Herrmann von seinem nächtlichen Ausflug.

Dunkelheit, leere Straßen, kaum Passanten – die Bedingungen, die am Treffpunkt herrschen, beschreibt Herrmann als perfekt: Leon möchte nicht erkannt werden, denn das, was er tut, ist illegal. Vor einem abgeschlossenen Tor macht Leon dennoch halt: Schlösser aufbrechen, das tue er nicht, beteuert er. Doch an einem nahegelegenen Supermarkt ist das Tor nicht verriegelt. Beim Blick in die Container aber folgt Ernüchterung: Die Tonnen wurden schon geleert und abgeholt. Genau das möchte Leon vermeiden: „Ich verstehe unter Containern, dass ich Lebensmittel davor rette, weggeschmissen zu werden.“

Während seiner Zeit als Student sei er dafür etwa einmal pro Woche losgezogen. „Es gab Zeiten, da hab ich nur von Containern gelebt“, erzählt Leon. Finanziell sei er darauf heute nicht mehr angewiesen­ – aber er findet es unethisch, Lebensmittel einfach wegzuwerfen. Deshalb steuert er noch einen dritten Supermarkt an. Der Weg zu den Mülltonnen ist frei – und binnen 15 Minuten sind drei Taschen vollgepackt. Bei der Auswahl verlasse er sich auf seine Nase: Rieche etwas schlecht, bleibt es in der Tonne. Dem Mindesthaltbarkeitsdatum schenkt der Lebensmittelretter dabei keine Beachtung.

An diesem Abend zählen ein Sack Rosenkohl, einige Kartoffeln, Schokolade, Süßigkeiten und ein Strauß Blumen zu Leons Ausbeute, außerdem auch etwas Wurst und Käse. Vor allem über die tierischen Produkte ärgert er sich: „Das ist der Gipfel der Respektlosigkeit gegenüber den Tieren, von denen wir uns ernähren.“

Anmerkungen der Redaktion

Frederik Herrmann ist freiberuflicher Multimedia-Reporter beim SWR. Er hat in Würzburg Political and Social Studies studiert und in Trier einen Master in Demokratischer Politik und Kommunikation absolviert. Neben seinem Studium arbeitete er als freier Journalist für das Trierer Nachrichtenportal 5VIER. Nach einem Praktikum beim SWR ist er für diesen seit 2023 freiberuflich tätig.

Der SÜDWESTRUNDFUNK (SWR) ist eine deutsche Rundfunkanstalt. Seit der Fusion von SÜDWESTFUNK und SÜDDEUTSCHEM RUNDFUNK im Jahr 1998 ist der SWR nach dem WDR die zweitgrößte Rundfunkanstalt der ARD. Im Sendegebiet in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz erreicht der SWR laut der Media-Analyse „ma 2021 Audio“ rund 6 Millionen Menschen jeden Wochentag. Auch der Webauftritt des SWR hatte allein im August 2021 laut similarweb rund 15 Millionen Besuche vorzuweisen. Der SWR wird von einem Rundfunkrat kontrolliert, der aus Vertreter:innen gesellschaftlich und politisch relevanter Interessensvertretungen der beiden Bundesländer besteht. Der SWR verfügt über einen Fernsehsender, sechs Radioprogramme (darunter ein Jugend- und ein Nachrichtensender) und mehrere Orchester und Chöre.

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„Mit Künstlicher Intelligenz gegen Lebensmittelverschwendung“

Deutsche Welle (DW), 19.06.2022 - Carla Bleiker

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Die Perspektive in 30 Sekunden

Lebensmittelverschwendung ist nicht nur ein deutsches Problem: Diverse Industrieländer arbeiten an Maßnahmen, um den Millionen Tonnen Essen, die jedes Jahr auf dem Müll landen, Herr zu werden. Ein besonders innovativer Lösungsansatz setzt dabei auf Künstliche Intelligenz, wie die Journalistin Carla Bleiker in einem Beitrag für die DEUTSCHE WELLE (DW) hervorhebt.

Die Firma Winnow etwa arbeite für Firmen, Hotels, Restaurants und Kreuzfahrtunternehmen aus 45 Ländern auf der ganzen Welt. Winnow beliefere seine Kunden mit Behältern, die Waagen und Kameras enthalten, um jegliche Nahrungsmittel, die das Lager erreichen und verlassen, genau zu erfassen. So werde automatisiert erkannt, wo Lebensmittelabfälle anfallen.

Besonders wichtig sei die Datensammlung, um das Warenangebot und den Einkauf an Verbrauch und Nachfrage anzupassen. „[W]enn immer wieder Tomaten im Müll landen, ist es vielleicht an der Zeit, einen Salat ohne Tomaten anzubieten“, zitiert Bleiker die Sprecherin der Firma. Das ermögliche es den Kunden nicht nur, wirtschaftlicher zu arbeiten – sondern auch umweltfreundlicher.

Laut der eigenen Website beliefert Winnow unter anderem Konzerne wie IKEA und ACCOR. In ihrem Beitrag stellt Bleiker heraus, dass vor allem in den Vereinigten Arabischen Emiraten gezielt versucht werde, dem Problem der Lebensmittelverschwendung mit Künstlicher Intelligenz zu begegnen.

Anmerkungen der Redaktion

Carla Bleiker ist freie Journalistin und arbeitet unter anderem als US-Korrespondentin in Washington für die DEUTSCHE WELLE. Sie ist Absolventin der Journalistenschule der Columbia Universität in New York. Bleiker schreibt des Öfteren für das Online-Portal QANTARA, das sich für einen intellektuellen Dialog mit der islamischen Welt einsetzen möchte. QANTARA wird von der DEUTSCHEN WELLE betrieben.

Die DEUTSCHE WELLE (DW) ist der Auslandsrundfunk der Bundesrepublik Deutschland. Er wird aus Bundesmitteln finanziert und ist Mitglied der ARD. Die DEUTSCHE WELLE produziert Online-, Fernseh- und Radiobeiträge und sendet in rund 30 Sprachen. Damit ist sie einer der Träger der auswärtigen Kulturpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Die Inhalte der Programme haben einen Schwerpunkt auf Nachrichten, Dokumentationen und Kulturberichterstattung. Die DEUTSCHE WELLE sorgte im Frühjahr 2020 für Schlagzeilen, nachdem die TAGESZEITUNG (TAZ) einige Schilderungen von Mitarbeiter:innen veröffentlichte. Sie berichteten von einem schlechten Arbeitsklima, von Rassismus, Mobbing und systematischer Unterdrückung von Kritik.